© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Unter Produktionszwang
Die Biographie Peter Longerichs über Joseph Goebbels ist ein Exempel für erkenntnisschwache Kompendien aus der Fließbandproduktion
Wolfgang Kaufmann

Biographien von NS-Größen haben immer Konjunktur. Und wo es eine Konjunktur gibt, da kann man natürlich auch Konjunkturritter finden. Sie profitieren von der Nachfrage, ohne aber dem Leser eine Gegenleistung, nämlich geistige Substanz, zu bieten. Statt dessen malträtieren sie ihn mit einer Mischung aus politischer Korrektheit und gepflegter Langeweile.

Ein typisches Beispiel hierfür ist Peter Longerichs neuestes Buch über Joseph Goebbels, das einer Himmler-Biographie von ähnlichem Kaliber folgt, die 2008 erschien. Allerdings hat sich Longerich beim ersten Mal wenigstens noch die Mühe gemacht, seine Darstellung in relativ breiter Front auf nicht-edierte Quellen zu gründen. Ganz anders die nunmehr vorgelegte Vita des Reichspropagandaministers: Hier dienen die angemerkten Archivbestände zumeist nur als Feigenblatt, welches die Dürftigkeit der eigenständigen Recherchen verbergen soll.

Als Ersatz für selbst gefundene oder ausgewertete Quellen müssen die edierten Tagebücher von Goebbels herhalten: Während die reichlich 4.000 Fußnoten lediglich um die 400 Verweise auf (vielfach allerdings eher marginale) Aktenstücke enthalten, finden die Tagebücher weit über 3.500mal Erwähnung. Und das kann auch kaum verwundern, wenn ein vielbeschäftigter Hochschullehrer das Kunststück fertigbringt, ein 900-Seiten-Buch innerhalb von nur zwei Jahren zusammenzuzimmern. Zudem sei folgende Frage erlaubt: Longerich ist doch – so weiß es zumindest sein Verlag zu vermelden – „ein international anerkannter Experte der Holocaustforschung“. Warum dann nun plötzlich eine Biographie nach der anderen? Oder präziser ausgedrückt: Auf wie vielen Hochzeiten kann ein Wissenschaftler angesichts des heutigen Spezialisierungszwanges mit gutem Gewissen tanzen, ohne befürchten zu müssen, daß irgendwann jemand die Frage nach dem Zustand der kaiserlichen Kleider stellt?

Klaus Hildebrand, einer der respektablen deutschen Historiker der letzten Jahrzehnte, hat einmal gesagt: „Erkenntnisfortschritte in der Geschichtswissenschaft stellen sich in der Regel dann ein, wenn neue Quellen oder neue Gedanken auftauchen.“ Aber weder das eine noch das andere trifft auf die Studie Longerichs zu. Wo sind denn die angeblich so neuen Aufschlüsse über Öffentlichkeit und Herrschaft im Nationalsozialismus, welche der Umschlagtext vollmundig verheißt? Daß Goebbels’ Wirken stets von einem unstillbaren Narzißmus geleitet wurde? Geschenkt – das weiß mittlerweile jeder einigermaßen historisch Gebildete! Daß Goebbels Hitler zugleich aber bis zum bitteren Ende hörig blieb? Mehr als geschenkt – das wissen sogar absolute Laien, wenn sie den Film „Der Untergang“ gesehen haben. Daß der Reichspropagandaminister aufgrund der Ellenbogenarbeit der anderen Paladine des „Führers“ nicht alle seine Wunschziele erreichen konnte? Nach Jahrzehnten der Polykratiedebatte eine Aussage ohne jedweden Innovationsgehalt! Daß Goebbels versuchte, aus dem „totalen Krieg“ immer neues machtpolitisches Kapital zu schlagen? Was für eine „Sensation“! Und so könnte man ewig fortfahren – der Leser erfährt also letztlich überhaupt nichts Neues.

Zudem hält sich die analytische Schärfe von Longerichs Biographie auch dort in Grenzen, wo auf Altbekanntes Bezug genommen wird. Man lese zum Vergleich nur einmal Frank-Lothar Krolls „Utopie als Ideologie“. An die Präzision und Tiefgründigkeit der dort zu findenden Charakterisierung von Goebbels (und im übrigen auch von Himmler) langt Longerich in keiner Weise heran, und er hat sie seinem Literaturverzeichnis nach auch gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Deshalb geht er im Gegensatz zu Kroll fälschlicherweise vom weitgehenden Fehlen politisch-programmatischer Vorstellungen bei Goebbels aus. Und was das Tagebuch als Hauptquelle betrifft: Wer braucht denn schon einen geistigen Vorkoster vom Format Longerichs, wenn er die Notizen des profilneurotischen Doktors auch selbst – und mittlerweile auch vollständig – lesen kann. Unerträglich ist jedoch nicht nur die dürftige Materialbasis und der fehlende Tiefgang des Werkes, sondern auch dessen voyeuristische Attitüde, wo es um Goebbels’ Beziehungen zu Frauen geht.

Die dergestalt mißlungene und deshalb rundum überflüssige Goebbels-Biographie ist allerdings mehr als nur ein kritisch zu sehendes Exempel individueller wissenschaftlicher Verflachung im Spannungsfeld von Produktionszwang und Geltungsdrang, in das ein Historiker prinzipiell überall auf der Welt geraten kann. Vielmehr empfiehlt sich auch eine Betrachtung vor dem Hintergrund der schweren Krise, in der die gesamte akademische bzw. institutionalisierte Geschichtswissenschaft in Deutschland derzeit ohne Zweifel steckt.

Diese Krise resultiert aus der zunehmenden Dominanz des politisch korrekten Mittelmaßes und der Modenhörigkeit auf methodischem Gebiet, wofür nicht zuletzt eine Forschungsförderung verantwortlich ist, welche vor allem eines honoriert, nämlich Angepaßtheit. Noch schlimmer freilich ist die Irrelevanz der meisten Forschungsthemen: Die Angehörigen der deutschen Historikergilde, welche in letzter Zeit fruchtbare Beiträge zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten geliefert haben oder gar – man wagt es kaum zu denken – zur Wahrung tatsächlicher nationaler Interessen angetreten sind, muß man doch mühsamst mit der Lupe suchen.

Alle anderen räkeln sich im Elfenbeinturm und basteln an der Sicherung ihrer Pfründe (das betrifft natürlich bloß die glückliche Minderheit, welche über solche verfügt) oder hecheln verzweifelt knechtigen Teilzeitstellen nach, die allerdings nur zu ergattern sind, wenn hochgradige Konformität und eine lückenlose Selbstzensur nachgewiesen werden können. Unter diesen Umständen darf man wohl auch für die Zukunft nicht allzuviel erwarten: Aus dem Umstand, daß es zu einer Absenkung des allgemeinen Anspruchsniveaus gekommen ist und Longerichs Goebbels-Biographie deshalb vielerorts deutlich freundlicher aufgenommen wurde, als sie es verdient, werden sicher Anreize erwachsen, weitere derartige Kompilationen zu produzieren.

Peter Longerich: Joseph Goebbels. Biographie. Siedler Verlag, München 2010, gebunden, 912 Seiten, Abbildungen, 39,99 Euro

Foto: NS-Propagandaminister Joseph Goebbels: Neue Aufschlüsse über Öffentlichkeit und Herrschaft im Nationalsozialismus finden sich keine

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