© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Pankraz,
T. von Jagow und das Recht auf Demo

Straßen dienen lediglich dem Verkehr. Ich warne Neugierige.“ So sprach im April 1911 Berlins legendärer Polizeipräsident Traugott Achatz von Jagow, ein erstklassiger öffentlicher Ordnungshüter, der neben anderem die Einbahnstraße erfunden hat. Hundert Jahre später gibt es noch immer Einbahnstraßen, aber in bezug auf das, wozu die Straße dient, hat sich Jagow, wie jeder sieht, monumental geirrt. An die Seite des Straßenverkehrs (und manchmal sogar an seine Stelle) trat längst die Straßendemonstration, und diese ist zu einem höchst wirksamen Instrument der großen Politik geworden. Traugott wird sich im Grabe umdrehen.

Nicht nur der Verkehr wird ja nun gestört, sondern die öffentliche Ordnung überhaupt, der „Landfrieden“, der zivilisierte Umgang der Bürger miteinander. Was sich heute fast täglich demonstrierend, Parolen schreiend und Plakate schwenkend durch die Straßen wälzt, ist an sich ein fremdes Element im Rechtsstaat. Straßendemonstrationen („Demos“) sind zwar vom Gesetz gedeckt, gehören zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit, aber sie tragen gewissermaßen von Natur aus immer die Gefahr in sich, in Unfrieden und Gewalt einzumünden; es gelingt dem Gesetzgeber nicht, klare Grenzen zu ziehen.

So bleibt ihm nur übrig, das Phänomen so gut wie möglich einzuhegen. Demos müssen bei der Behörde angemeldet und von ihr genehmigt werden, sie werden von den Sicherheitskräften begleitet und beaufsichtigt, es gibt Auflagen. Trotzdem bilden sich immer wieder „harte, gewaltbereite Kerne“, vermummte Terrorgestalten erscheinen oder geben sich zu erkennen, welche Fensterscheiben einschlagen, Autos anzünden, die Brüll-Rhetorik anschärfen.

Quantität geht dabei in jedem Fall vor Qualität, Masse vor Klasse. Ausgesprochen komisch der nach jeder Demo ausbrechende Streit über die Anzahl der Teilnehmer. „Die Organisatoren“, heißt es dann etwa in den Medien, „sprachen von 10.000 Demonstranten, die Polizei von annähernd 3.000.“ Überhaupt sind die Medien mittlerweile zum Zentralpunkt jeglichen Demonstrationskalküls geworden. Ohne volle Medienpräsenz keine Demo. Man demonstriert offenbar einzig noch in Hinblick auf Fernsehbilder, und diese müssen gerappelt volle Straßen zeigen.

Ganz heikel wird der Fall bei sogenannten Gegendemos. Die typische hiesige Gegendemo sieht folgendermaßen aus: Eine politisch rechts stehende Formation veranstaltet eine behördlich genehmigte Demo, zu der sich – mag sein – hundert sehr disziplinierte Teilnehmer einfinden. Eine von der Linken, von Gewerkschaften und von der evangelischen Kirche organisierte Gegendemo stellt daraufhin mindestens 5.000 „zu Recht empörte“ Gutmenschen auf die Beine, darunter „leider“ auch eine „autonome“ Gruppe von Schlägern, welche dann am Abend im Fernsehen gezeigt werden – als Beweis für die Gewalttätigkeit der Rechten.

Die größten, verlogensten und gewalttätigsten Demos werden immer von staatsnahen Kräften oder vom Staat selbst organisiert (und bezahlt). Das gilt natürlich ganz besonders für totalitäre oder autokratische Staaten, für welche die mit allem medialen Pomp zelebrierte Großdemonstration ein unerläßliches Mittel ihrer Machtausübung ist. Im Grunde stehen sich Demo und Gewaltstaat viel näher als Demo und Rechtsstaat. „Demonstrieren“ heißt vorzeigen und rücksichtslos seine Machtmittel einsetzen, und wer schafft das besser als der autokratische Staat?

Mit Grauen erinnert sich Pankraz an die staatlich verordneten Großdemonstrationen in der DDR, zu denen auch alle Oberschüler und Studenten automatisch anzutreten hatten. Immer wieder wurde man angehalten, die jeweils Mächtigen wie wahnsinnig hochleben zu lassen, Fähnchen und Parolen zu schwenken und Chrusch-tschow-, Ulbricht- oder Ho-Chi-Minh-Plakate durch die Straßen zu schleppen, genau wie das später im Westen die 68er taten, nur daß es da Mao-Tsetung-, Che-Guevara- und Ho-Chi-Minh-Plakate waren.

Energisch unterschieden sich von dieser Art Demo die Demos, die in der Spätzeit der DDR und in der Vorwendezeit von den mutigen Bürgerrechtlern, den Bärbel Bohley, Roland Jahn & Co. unternommen wurden. Das Regime war damals schon so mürbe, daß es nicht mehr wagte, jede Art von demonstierter Opposition zu unterdrücken, aber es hatte doch noch die Macht, die von den Demonstranten vorgezeigten Parolen zu zensieren.

Wenn die Bürgerrechtler anläßlich offizieller Militärparaden Transparente mit der Aufschrift „Schwerter zu Pflugscharen“ vorzeigten, wurde das verboten, und wenn sie anläßlich von Rosa-Luxemburg-Demos der SED Transparente mit dem Luxemburgsatz: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ vorzeigten, wurde das ebenfalls verboten. Schließlich zeigten sieTransparente, auf denen gar nichts mehr zu lesen war, also die nackte, unbeschriebene Leinwand. Das pure Nichts war zur einzigen noch vorzeigbaren Parole geworden – und der Staat verschwand daraufhin schnell.

Ein wenig erinnerten die kürzlichen Riesen-Demos in Tunesien und Ägypten an diese unheimlichen Jenaer „Nulldemonstrationen“ aus der deutschen Vorwendezeit. Auch die Tunesier und Ägypter demonstrierten faktisch für nichts, jedenfalls für nichts Konkretes. Nur den jeweiligen Tyrannen wollten sie weghaben, und der verschwand denn ja auch schnell. Was nun kommen wird, steht buchstäblich in den Sternen.

Präsident von Jagow hätte die Lage wahrscheinlich dahingehend kommentiert, daß Straßen nun einmal für den flüssigen Verkehr da seien und nicht dafür, daß man auf ihnen herumsteht und irgend etwas vorzeigt. Die erste Einbahnstraße übrigens, die er für Berlin anordnete, war die Friedrichstraße zwischen Unter den Linden und Behrenstraße, eine Strecke also, die damals wie heute bis obenhin mit Anzeigen und Schaufenstern vollgepflastert war bzw. ist. Genau auf solchen Straßen, würde Jagow dekretieren, dürfe es nur in eine Richtung gehen, und zwar möglichst zügig.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen