© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

„Wie viele Nackenschläge noch?“
Er war 37 Jahre Mitglied der CDU, saß im Bundesvorstand und im Parteipräsidium, war Finanzminister und Ministerpräsident, dann trat er aus – aus Protest. Jetzt sieht er seine Kritik durch das Wahldesaster im Südwesten bestätigt.
Moritz Schwarz

Herr Ministerpräsident, ist Fukushima an allem schuld?

Münch: Nein, keineswegs.

„Diese Wahl ist in Japan verloren worden“, so CDU-Südwest-Generalsekretär Thomas Strobl.

Münch: Japan hat sicher Auswirkungen gehabt, aber ausschlaggebend war die Unglaubwürdigkeit der Union, nicht nur, aber vor allem durch das, was Helmut Kohl als „Rolle rückwärts“ kritisiert hat.

Wie können Sie da so sicher sein?

Münch: Ich lebe und arbeite in Freiburg im Breisgau, also tief im Badischen, und habe den Wahlkampf hier persönlich miterlebt. Die meisten Menschen bestätigten mir diese Einschätzung: „Wir wissen nicht, wofür die CDU noch steht.“ Einen völlig anderen Punkt möchte ich aber hinzufügen: Ich bin nämlich auch entsetzt über die Reaktion der SPD. In Baden-Württemberg hat sie ihr schlechtestes Ergebnis erzielt, seit es das Land gibt, und in Rheinland-Pfalz fast zehn Prozent verloren, und dennoch haben sich Gabriel, Nahles, Kurt Beck und Nils Schmid am Wahlabend als die großen Sieger präsentiert. Das ist schon dreist und trägt in hohem Maße zur Unglaubwürdigkeit der Politik bei. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Bürger irgendwann die Nase voll haben und gar nicht mehr oder nur noch Protestparteien wählen.

Laut Stefan Mappus hätte man ohne die Atomvolte noch schlechter abgeschnitten.

Münch: Verständlich, daß er jetzt so argumentiert. Tatsächlich aber war die Wahl keine Volksabstimmung über die Atomkraft, sondern in erster Linie über die Glaubwürdigkeit von Politik beziehungsweise auch des Politikers Mappus, der erst den Rücktritt von Parteifreund Röttgen fordert, dann im Eiltempo den Rückwärtsgang einlegt. Friedrich Merz hat es am Montag auf den Punkt gebracht: „So etwas bricht der CDU das Rückgrat.“

Vor allem für Josef Schlarmann, Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, ist die Niederlage Folge eines „massiven Vertrauensverlustes der bürgerlichen Parteien“.

Münch: Völlig richtig. Die CDU ist zur Partei der Beliebigkeit und der Konturlosigkeit geworden. Wie oft bin ich gefragt worden: „Wofür steht eigentlich die CDU?“ Ich konnte keine befriedigende Antwort geben.

2009 sind Sie aus Protest aus Ihrer Partei ausgetreten.

Münch: Aus Protest gegen die Profillosigkeit meiner Partei unter einer Kanzlerin und Parteivorsitzenden, die nur noch laviert, weil es ihr vornehmlich um die Stabilisierung ihrer Macht geht. Es gibt zwei Ansätze für Politik: Den Umfragen, Tendenzen und Moden hinterherzulaufen, um Macht und Beliebtheit zu erhalten, oder Macht dafür zu nutzen, um Überzeugungen umzusetzen. Von Talleyrand stammt der Ausspruch: „Dort geht mein Volk, ich muß ihm nach, ich bin sein Führer!“ Das paßt nach meinem Eindruck genau auf Frau Merkel. Und christliche sowie konservative Elemente wurden dazu ohne Rücksicht gestutzt. Deshalb warne ich: Wenn es dabei bleibt, daß sich die Analyse der Wahlniederlage auf die Formel reduziert: „Allein der Reaktor in Japan war schuld!“ dann wäre das fatal, dann wird sich der Abstieg der Union fortsetzen!

Es verläßt nicht jeden Tag ein ehemaliger Ministerpräsident die Partei. Hat Frau Merkel auf Ihren Austritt reagiert?

Münch: Nein, aber das wundert mich nicht. Nur, wenn jemand, der für die Partei 37 Jahre lang gekämpft hat, im Bundesvorstand und im Präsidium saß, ihr als Abgeordneter, Minister und schließlich Ministerpräsident gedient hat, sich zu einem solchen Schritt veranlaßt sieht, dann frage ich doch mal nach und suche ein Gespräch. Dies ist jedoch bis heute nicht geschehen.

Warum interessiert es Frau Merkel nicht?

Münch: Das fragen Sie sie mal selbst. Für mich ist das jedenfalls ein weiterer Beweis dafür, wie diese Frau mit den eigenen Leuten umgeht, und ich bin nicht der einzige, denken Sie an Kirchhof, Merz, Glos oder Erika Steinbach und, und, und ...

Alle reden nun über Baden-Württemberg aber hat die Union am Sonntag im Grunde nicht zwei Stammländer verloren?

Münch: Der Gedanke ist nicht so falsch. Natürlich muß man Julia Klöckner zugute halten, daß sie dazugewonnen und es immerhin auf Augenhöhe mit der SPD geschafft hat. Aber richtig ist auch, daß Rheinland-Pfalz traditionell ebenso ein CDU-Stammland ist wie Baden-Württemberg. Somit hätte der Anspruch der Union eigentlich sein müssen, das Land zurückzuerobern. Und so gesehen hat die Union am Sonntag das eine Land neu, das andere erneut verloren. Und wenn die SPD fast zehn Prozent einbüßt und die CDU nur zweieinhalb gewinnt, dann stimmt etwas nicht.

Sie sagen, für die Niederlage von Stuttgart gebe es zwei Gründe, die mangelnde Glaubwürdigkeit und die Abkehr vom Konservatismus. Aber Konservatismus gehört doch gar nicht zu den Themen, die bei dieser Wahl eine Rolle gespielt haben?

Münch: Irrtum, vergessen Sie nicht, daß die Wahlbeteiligung lediglich bei 66,2 Prozent lag. Ich bin überzeugt, daß zu den fehlenden 33,8 Prozent – immerhin ein Drittel aller Wahlberechtigten – auch etliche konservative Wähler gehören, die nicht unbedingt wegen des Atommoratoriums zu Hause geblieben sind, sondern weil sie konservative und oder christliche Werte bei der CDU nicht mehr verankert sehen.

Sie sind Politikwissenschaftler und Soziologe – gibt es dafür irgendwelche Belege?

Münch: Ich habe empirische Belege aus früheren Wahlen, und ich spreche aus meiner 37jährigen praktischen Erfahrung als Politiker. An der genannten Position gibt es für mich keinen Zweifel. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Nach meinem Austritt aus der CDU habe ich über hundert positive Zuschriften und etliche Anrufe von Bürgern bekommen, denen ich – bis auf zwei Ausnahmen –aus der Seele gesprochen habe. Übrigens meldeten sich sogar zwei aktive Bundestagsabgeordnete sowie ein amtierender Staatssekretär der Union, die meine Position ausdrücklich geteilt haben. Natürlich wollen sie nicht genannt werden. Und denken Sie daran, daß die SPD bei der Bundestagswahl 2002 gerade mal rund 6.000 Stimmen mehr hatte als die Union. Hätte die CDU/CSU damals auch die Klientel der demokratischen konservativen Kleinparteien bedient, die insgesamt über 100.000 Stimmen auf sich vereint haben, wäre nicht Gerhard Schröder, sondern Edmund Stoiber Kanzler geworden! Es fehlten ihm diese Stimmen, ganz zu schweigen von der wohl noch größeren Anzahl an Konservativen, die nicht eine Kleinpartei wählen, sondern einfach zu Hause bleiben.

Planen Sie nun die Gründung einer neuen konservativen Partei?

Münch: Nein, denn die Erfahrung zeigt, daß eine neue Formation nur zu einer weiteren Splitterpartei ohne politische Bedeutung führt, und davon gibt es schon genug. Ich will lieber per Öffentlichkeitsarbeit den kritischen Zustand der CDU und ihre Defizite beschreiben und damit versuchen, auf eine Veränderung in der Partei hinzuwirken.

Was kritisieren Sie konkret in puncto Abkehr vom Konservatismus?

Münch: Für mich bedeutet es zunächst einmal, daß man ein klares Wertefundament hat. Angela Merkel hat in einer Rede vor dem Europäischen Parlament einmal als die größte Errungenschaft Europas nicht die abendländische christliche Kultur, sondern schlichtweg die „Toleranz“ genannt. Außerdem gehört für mich zum politischen Konservatismus, daß man glaubwürdig und verläßlich ist und Vertrauen ausstrahlt. Kann man heute noch als Wähler darauf bauen? Dies ist nach meiner Beurteilung leider nicht (mehr) so. Hierzu einige Beispiele: Erstens denke ich etwa an Thilo Sarrazin, dessen Buch viele Bürger sehr bewegt hat. Von der Kanzlerin wurde es scharf kritisiert und verurteilt, obwohl sie das Buch gar nicht gelesen hatte. Zweitens, bei zu Guttenberg wurden seine gravierenden Verfehlungen abgetan mit dem absurden Hinweis, sie, die Kanzlerin, hätte keinen wissenschaftlichen Assistenten, sondern einen Minister eingestellt – als ob man charakterliche Eigenschaften je nach beruflicher Tätigkeit unterschiedlich beurteilen kann. Drittens, früher war die Union ein entschiedener Gegner der Abtreibung. Heute tritt Frau Merkel im Wahlkampf öffentlich mit Alice Schwarzer, der Vorkämpferin für die Abtreibung, auf. Wie mir unlängst ein Journalist berichtet hat, ist sie vor einiger Zeit gefragt worden, was sie, falls sie die absolute Mehrheit hätte, in der Abtreibungsfrage anders machen würde. Antwort: Gar nichts, denn die jetzige Regelung habe sich bewährt. Ich frage: Was hat sich bewährt? Weit über hunderttausend Abtreibungen jedes Jahr in Deutschland? Sind das Belege dafür, daß und wie man Vertrauen gewinnt? Viertens, zu Ehe und Familie fällt der Union nichts anderes ein, als daß man „verschiedene Familienmodelle und Lebensentwürfe nicht gegeneinander ausspielt“.

Konkret haben Sie 2009 vor allem auch wegen der öffentlichen Papstschelte der Kanzlerin die Partei verlassen.

Münch: Frau Merkel hat damals – ausgerechnet in Anwesenheit eines muslimischen Diktators, nämlich Nasarbajew aus Kasachstan – die Entscheidung des Papstes in der Causa Bischof Williamson kritisiert und von ihm überdies eine Klärung seiner Position zum Holocaust verlangt. Dabei hat Angela Merkel offenbar gar nicht begriffen, daß es einen Unterschied gibt zwischen Rücknahme einer Exkommunikation und einer Rehabilitierung. Der Papst hat immer seine Haltung zum Holocaust zweifelsfrei dargestellt. Das haben ihm sogar internationale jüdische Organisationen ausdrücklich bescheinigt. Eine Belehrung von Frau Merkel war unangebracht, verfehlt und ungehörig. Oder nehmen Sie ein anderes Beispiel: Während für Konrad Adenauer etwa der sonntägliche Kirchgang noch selbstverständlich war, hat Angela Merkel, als sie einmal gefragt wurde, was ihr zum Stichwort Sonntag einfällt, geantwortet: „Ausschlafen und nachdenken.“ Und offenbar spielt es auch keine Rolle mehr, daß verheiratete Spitzenpolitiker sich mit neuer Freundin und außerehelichem Kind in der Öffentlichkeit präsentieren und sogar für Magazine ablichten lassen. Die konservative Substanz und damit auch das Gefühl für die Vorbildfunktion von Politikern sind in der Union verlorengegangen!

Allerdings wird in bezug auf Baden-Württemberg nun keineswegs von einem Scheitern mangels Konservatismus gesprochen. Vielmehr droht jetzt, daß man in der CDU-Zentrale mit Mappus, als angeblichem Konservativen, nun auch das Konservative endgültig als gescheitert ansieht.

Münch: Das wäre absurd, aber ich schließe diese Art der Diskussion nicht aus. Mappus ist nicht mit konservativen Werten gescheitert, sondern neben anderen Gründen auch an der Art und Weise, wie er Politik betrieben hat. Tatsächlich aber war das Konservative ja nicht ohne Erfolg bei dieser Wahl. Denken Sie daran, daß etwa viele der grünen Wähler durchaus konservative Motive und Einstellungen haben. Oder daran, daß die drei Politiker, die für sich Erfolge reklamieren, nämlich Kretschmann, Beck und Klöckner, alle drei vom Typus her bodenständig und konservativ sind. Stefan Mappus hatte andere Probleme: nämlich in der Vermittlung und mit seiner politischen Glaubwürdigkeit.

Dennoch wird die Union ihren konservativen Flügel nicht erneuern, denn sie fürchtet, daß sie dann Links mehr verliert als sie rechts gewinnt.

Münch: Unsinn! Ich frage Sie: Wo sind denn die Wähler aus den modernen großstädtischen Milieus, die man nun seit Jahren schon zu gewinnen versucht? Tatsächlich eilt die CDU doch von Niederlage zu Niederlage. Mit dieser Strategie hat die Partei bei den letzten beiden Bundestagswahlen die schlechtesten Ergebnisse erzielt! Und Hamburg sowie Nordrhein-Westfalen wollen wir auch nicht vergessen. Und Sie können sicher sein, daß die Union auch in Bremen und Berlin keine Chance haben wird. Und wollen Sie auf Mecklenburg-Vorpommern wetten? Die Menschen, die Sie meinen, wählen lieber das grüne Original als die schlechtere Kopie. Ich frage mich, wie viele Nackenschläge braucht die Union eigentlich noch, bis sie das endlich begreift und sich auf ihre ursprünglichen Grundsätze und Stärken zurückbesinnt. Eine Partei der Beliebigkeit und ohne Kompaß ist nicht regierungsfähig.

 

Prof. Dr. Werner Münch, der Politikwissenschaftler und Soziologe war ab 1990 Landesfinanzminister und von 1991 an Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt sowie Vorsitzender der CDU im Land. Zuvor vertrat er seine Partei sechs Jahre als Abgeordneter im Europäischen Parlament. Dem Bundesvorstand der CDU gehörte er ab 1989, dem Präsidium ab 1991 an. 1993 trat er wegen der sogenannten „Gehälteraffäre“ von allen Ämtern zurück, wurde jedoch 1996 und 1998 in erster und zweiter Instanz gerichtlich vom Vorwurf unrechtmäßig empfangener Gehaltszahlungen vollständig entlastet. 2009 erklärte er aus Protest gegen den Kurs der CDU unter Angela Merkel den Austritt aus seiner Partei, der er 1972 beigetreten war. Vor Beginn seiner politischen Karriere war Münch Rektor der Katholischen Fachhochschule Norddeutschland in Osnabrück, später Präsident der siebzehn kirchlichen Hochschulen in Deutschland. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik arbeitete er für die Deutsche Bahn in Brüssel und beriet die Regierungen von Bulgarien und Aserbaidschan. Geboren wurde der Katholik 1940 in Bottrop.

 

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