© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

Die Kriminalisierung der deutschen Gefangenen
Die Kriegsgefangenen in der Sowjetunion wurden vielfach aufgrund hanebüchener Vorwürfe als Kriegsverbrecher deklariert
Hans-Joachim von Leesen

Schon im April 1943 wurde der „Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets“ bekannt, in dem es um „Maßnahmen zur Bestrafung der deutsch-faschistischen Übeltäter, die sich des Mordes und der Mißhandlung an der sowjetischen Zivilbevölkerung und an den Rotarmisten schuldig gemacht haben, sowie der Spione und Vaterlandsverräter sowie deren Helfershelfer“ ging. Definitionen der Tatbestände, die zur Bestrafung führten, fehlten. Der erste solcher Prozesse gegen deutsche Soldaten fand öffentlich im Dezember 1943 in dem von den Sowjets zurückeroberten Charkow statt.

Vier Wehrmachtsoldaten wurden öffentlich gehenkt, darunter ein Gefreiter, der beschuldigt wurde, einen Lastwagen gefahren zu haben, in dem Menschen durch Auspuffgase getötet worden sein sollten. Es folgten weitere 45 große Schauprozesse, in denen Kriegsgefangene wegen teilweise grotesker Beschuldigungen verurteilt wurden, darunter einer in Leningrad, in dem zehn Wehrmachtssoldaten, darunter ein Generalmajor ebenso wie ein Gefreiter, zum Tode verurteilt wurden, weil sie angeblich in Katyn Zigtausende polnischer Offiziere erschossen haben sollten. Auch der Kommandierende General des freiwillig auf deutscher Seite kämpfenden XV. Kosaken-Kavallerie-Korps, Generalleutnant Helmuth von Pannwitz, wurde das Opfer eines solchen Prozesses.

Obwohl die Sowjetunion von Anfang des Krieges an deutlich gemacht hatte, daß sie sich an die internationalen Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen nicht halten werde, gab es trotzdem Richtlinien, wie mit Kriegsgefangenen zu verfahren sei. Im Juli 1941 erließ der Rat der Volkskommissare der UdSSR einen entsprechenden Beschluß, der aus heutiger Sichtdurchaus den Anschein erweckt, als sei er nicht weit entfernt gewesen von den völkerrechtlichen Abmachungen, an die sich die europäischen und nordamerikanischen Staaten hielten.

Tatsächlich aber hielten die postulierten Sowjet-Richtlinien etwa über die Rechtsstellung der Gefangenen, über ihre Betreuung, die für sie geltende Arbeitsordnung in nahezu keinem Falle einem Vergleich mit der Praxis stand. Das belegt allein schon die Tatsache, daß von den in sowjetische Hand gefallenen deutschen Kriegsgefangenen der ersten beiden Kriegsjahre nur 26 Prozent die Gefangennahme überlebt haben (JF 12/11). 75 Prozent wurden gleich nach der Gefangennahme ermordet, erlagen den unmenschlichen Bedingungen des Transportes in die rückwärtigen Lager, starben an Krankheiten und Seuchen oder verhungerten einfach.

Hatten die Überlebenden die Sammellager erreicht, wurden sie in Arbeitsbrigaden zu Arbeitseinsätzen eingeteilt. Etwa ab 1949 besserten sich die Lebensbedingungen, die bis dahin in jeder Beziehung katastrophal waren. Die Gefangenen wurden ausnahmslos zu körperlichen Arbeiten eingesetzt, und zwar nicht vorrangig zum Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Gebiete, sondern vor allem für die Erfüllung des dritten Fünfjahresplanes von 1939, dessen anvisierte Normen bereits vor dem Juni 1941 absehbar nicht erfüllt werden konnten. Nun hatte man in den deutschen Zwangsarbeitern billige Arbeitskräfte, um das damals Versäumte in die Tat umzusetzen. Die Sowjetführung begründete den rücksichtslosen Einsatz der deutschen Gefangenen ohne geeignete Arbeitsgeräte, ohne Arbeitsschutzmaßnahmen, ohne geeignete Kleidung und Unterbringung mit dem Argument, sie sollten die Schuld Deutschlands am Kriege wiedergutmachen. Vor allem wurden die Gefangenen zu Baumaßnahmen herangezogen, an zweiter Stelle stand die Arbeit in Wäldern, um Holz zu gewinnen, gefolgt vom Bau von Verkehrswegen wie Straßen und Eisenbahnlinien.

Die „Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte“ ermittelte durch Befragungen der Heimkehrer, durch Auswertung der sowjetischen Quellen sowie der Presse, daß zwischen 1942 und 1955 deutsche Kriegsgefangene insgesamt mindestens zehn Milliarden (genau beziffert auf 10.338.997.136) Arbeitsstunden geleistet haben, die einen „beachtlichen volkswirtschaftlichen Wert darstellten“ und das erst recht, wenn man bedenkt, daß die Lebensbedingungen in der längsten Zeit der Kriegsgefangenschaft völlig unzulänglich waren. So wurden weite Gebiete des zerstörten Stalingrad von deutschen Kriegsgefangenen wieder aufgebaut, aber auch Kraftwerke, Bahnhöfe, Straßen und andere neue Infrastrukturprojekte realisiert.

Die Alliierten hatten im April 1947 auf der Moskauer Außenministerkonferenz beschlossen, die deutschen Kriegsgefangenen bis Ende Dezember 1948 zu entlassen. Die UdSSR sowie Polen hielten sich indessen nicht daran. Um den Schein zu wahren, es gebe einen moralischen Grund dafür, wurden 1949 in der Sowjetunion Massenprozesse gegen etwa 27.000 Kriegsgefangene inszeniert, die pauschal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurden mit überwiegend hanebüchenen Begründungen; etwa sie schädigten die Sowjetunion, indem sie Hühner gestohlen oder Bäume gefällt hätten. Unter den Verurteilten war auch der erfolgreichste Jagdflieger der Welt, der Luftwaffenoffizier Erich Hartmann, der dafür büßen sollte, daß er 352 gegnerische Flugzeuge, darunter viele sowjetische, abgeschossen hatte. So konnten dann die Sowjets am 5. Mai 1950 behaupten, die Entlassung deutscher Kriegsgefangener sei abgeschlossen; in der Sowjetunion befänden sich lediglich noch etwa 13.000 verurteilte Kriegsverbrecher.

In der Offentlichkeit der inzwischen gegründeten Bundesrepublik lösten diese Zahlen Entsetzen aus, ging man doch davon aus, daß sich noch Hunderttausende Vermißte in „Schweigelagern“ in den Weiten Sibiriens befänden. In fast allen Städten versammelten sich die Bürger zu großen Protestdemonstrationen und forderten: „Gebt unsere Gefangenen frei!“ Die Bundesregierung legte 1954 der Uno-Vollversammlung sieben Bände mit den Namen von 1.156.663 vermißten deutschen Soldaten vor, die sich noch in der Sowjetunion in Gefangenschaft befinden müßten. Die UdSSR reagierte nicht.

Als die Sowjetunion verlangte, die Bundesrepublik solle diplomatische Beziehungen mit der UdSSR aufnehmen, stellte die Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer die Forderung, daß darüber nur im Zusammenhang mit der Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen verhandelt werden könne. Tatsächlich erreichte Adenauer durch seine Standfestigkeitbeim Besuch ind er Höhle des Löwen 1955 – so drohte er mit Abbruch der Verhandlungen in Moskau, als die sowjetische Führung das deutsche Volk beleidigte, woraufhin die sowjetische Seite zurücksteckte –, daß endlich bis Ende 1955 die restlichen 10.000 deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion als „amnestierte Kriegsverbrecher“ heimkehren konnten. Die Sowjetführung verlangte allerdings, daß „die deutschen Regierungen“ 749 von ihnen als „Schwerstverbrecher“ in Deutschland vor Gericht stellen müsse.

Die Untersuchungsakten der Beschuldigten sollten „in Kürze“ der deutschen Seite übergeben werden, was jedoch nicht geschah. Die Bundesregierung hat die sowjetischen Urteile nie anerkannt. Zur Jahreswende 1955/1956 konnten dann die letzten deutschen Kriegsgefangenen die Grenze nach Deutschland überschreiten; 275 wurden der DDR überstellt, wo sie ins Zuchthaus Bautzen eingesperrt und im April 1956 ohne Prozeß freigelassen wurden. 452 angebliche Kriegsverbrecher gelangten im Januar 1956 in die Bundesrepublik, wo sie nach Registrierung nach Hause entlassen wurden. Dort wurden sie fast überall mit Jubel von der Bevölkerung begrüßt. Abfinden mußten sich die Deutschen, daß die übrigen Hunderttausende von Vermißten tatsächlich nicht mehr lebten.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion richtete Rußland eine „Verwaltung für die Rehabilitierung der von der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR unschuldig Verurteilten“ ein, die auf Antrag die Urteile über angebliche Kriegsverbrechen überprüfte. Die übergroße Mehrzahl der Anträge ergab eine Rehabilitierung der damals Verurteilten. Auch im prominenten Fall Helmuth von Pannwitz’ gelang es Angehörigen Ende der neunziger Jahre, von der russischen Generalstaatsanwaltschaft eine offizielle Rehabilitierung des aufgrund von haltlosen Anklagen verurteilten und 1947 hingerichteten Kosakengenerals zu erwirken.

Foto: Angehörige suchen im Flüchtlingslager Friedland unter den aus der Sowjetunion 1955 zurückgekehrten Kriegsgefangenen nach Vermißten: Hunderttausende Hoffnungen erfüllten sich nicht

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