© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

Alltägliche Grausamkeiten
Klaustrophobische Kammerspiele: Die Figuren des US-Schriftstellers Tennessee Williams leben bis heute fort
Silke Lührmann

Niemand lernt jemals jemanden kennen. Wir sind alle zu lebenslänglicher Einzelhaft in unserer Haut verurteilt.“ Und wenn sich zwei Menschen doch einmal nahekommen, dann reiben sie sich aneinander auf, zerfleischen sich gar gegenseitig.

Auf diesem pessimistischen Weltbild hat Tennessee Williams eine ganze Pulitzer-gekrönte Karriere aufgebaut. Immer wieder geht es in seinen Stücken um die minutiöse Darstellung der alltäglichen zwischenmenschlichen Grausamkeiten – ein dramaturgisches Klischee, von dem gutes Theater seit Ibsen und Strindberg, seit Edward Albee und Eugene O’Neill lebt, das aber in Tennessee Williams einen wohl kaum zu übertreffenden Meister fand. Folgerichtig ist die „kindness of strangers“, der sich Blanche DuBois, die bekannteste unter seinen neurotischen und fragilen (Frauen-)Gestalten, in „Endstation Sehnsucht“ (1947) anvertraut, eine Illusion und keine Erlösung.

Die Figur, der Williams seinen harten Schicksalsspruch in den Mund legt, ist robuster: ein Streuner, ein Unangepaßter, ein Herzensbrecher, der bei den bigotten Bürgern der amerikanischen Südstaaten-Kleinstadt Anstoß erregt mit seiner Schlangenlederjacke, seiner Gitarre, seiner überhitzten Körpertemperatur. Geradezu eine Paraderolle für Marlon Brando, der den „Mann mit der Schlangenhaut“ denn auch in dem gleichnamigen Film von Sidney Lumet (1959) und am Broadway spielte.

Nicht weniger illusionär als die Hoffnung auf die gütige Anteilnahme wildfremder Menschen ist freilich der Glauben, daß Familienbande je etwas anderes wären als Fesseln, an denen wir letztlich zugrunde gehen. Auch diese bittere Erfahrung erspart Williams so gut wie keiner seiner Figuren: seien es die herrschsüchtigen Mütter, die ihren Mitmenschen in „Die Glasmenagerie“ (1944) und „Plötzlich letzten Sommer“ (1958) das Leben schwermachten, das Gerangel ums Erbe des Patriarchen in „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ (1955) oder die explosive Dreieckskonstellation zwischen Blanche, ihrer Schwester Stella und deren Mann, dem brutalen Stanley Kowalski – auch dies eine Rolle, die dem jungen Marlon Brando sozusagen auf den Leib geschrieben war.

Den Stoff und die Inspiration für seine klaustrophobischen Kammerspiele lieferte ihm nicht zuletzt die eigene Familie: der Vater Alkoholiker, die Mutter ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs. An der als Schizophrenie diagnostizierten psychischen Störung seiner geliebten Schwester Rose litt er ebenso mit wie an der Lobotomie, die ihr schließlich – wie es seinerzeit gerade in Mode kam – zu deren Heilung verpaßt wurde.

Sein allererstes Schriftstellerhonorar, so überliefert es die Literaturgeschichte, soll sich Williams als Sechzehnjähriger mit einem Beitrag zu einem Preisausschreiben verdient haben, dessen Thema nicht nur damals die Gemüter bewegte: „Kann eine gute Ehefrau ein guter Kumpel sein?“ Er selbst geriet jedenfalls nie in die Verlegenheit, seine darin aufgestellten Thesen auf die Probe zu stellen.

Der am 26. März 1911 im Haus der Großeltern in Columbus, Mississippi, geborene Thomas Lanier Williams blieb zeitlebens Junggeselle. Nach einer Affäre mit dem Tänzer Kip Kiernan, der ihn schließlich für eine Frau verließ, lernte er 1947 in New Orleans die Liebe seines Lebens kennen, einen ehemaligen Marinesoldaten sizilianischer Abstammung namens Frank Merlo, den er zu seinem persönlichen Sekretär beförderte. Die Beziehung hielt fünfzehn Jahre lang, und Merlos Krebstod ein Jahr nach der Trennung stürzte Williams in tiefe Depressionen, die das Ende seiner fruchtbarsten Schaffensperiode bedeuteten.

Seine andere große Liebe, die zum Theater, hatte er schon viel früher entdeckt. Als sein Stück „Cairo, Shanghai, Bombay!“ 1935 in Memphis von einer Amateurtruppe erstaufgeführt wurde, fühlte er sich wie „verzaubert“ vom Gelächter des Publikums. „Das war der Moment, in dem das Theater und ich für immer zueinander fanden, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich weiß, daß es mir das Leben gerettet hat“, bekannte er später. Nach Abbruch seines Journalismus-Studiums an der Universität von Missouri arbeitete er damals in einer Schuhfabrik in St. Louis und schlug sich die Nächte an der Schreibmaschine um die Ohren.

Sein Stück „Battle of Angels“, mit den Mitteln privater Philanthropie, nämlich einem 1.000-Dollar-Stipendium der Rockefeller-Stiftung finanziert und 1940 in Boston uraufgeführt, erwies sich zunächst als Flop, diente aber später als Vorlage für „Orpheus steigt herab“ (1957), ebenjenes Drama um den Mann mit der Schlangenhaut. Seine nächste große Chance verdankte Williams der schier utopisch anmutenden Weitsicht der Roosevelt-Regierung, die die bis dato schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise der Geschichte mit Kulturförderungsprogrammen und der Schaffung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor bekämpfte. 1939 zog er nach New Orleans, um für die im Rahmen des New Deal geschaffene Works Progress Administration schriftstellerisch tätig zu werden, die unter anderem auch Kunstprojekte unterstützte.

Mit der „Glasmenagerie“ kam der endgültige Durchbruch, und zwischen 1948 und 1959 wurden sieben seiner Stücke am Broadway aufgeführt und ebenso viele verfilmt; hinzu kamen zahlreiche Auszeichnungen, darunter zwei Pulitzer-Preise.

Als Tennessee Williams am 25. Februar 1983 in seinem New Yorker Hotelzimmer am Verschluß einer Flasche Augentropfen erstickte – ein durchaus dramatischer, wenn auch würdeloser Abgang –, konnte ihn auch das Theater nicht mehr retten. Seine Figuren aber leben fort: auf der Bühne, auf der Leinwand und in der kreativen Phantasie, der sie einst entsprungen sind.

Foto: Marlon Brando und Vivien Leigh in der Tennessee-Williams-Verfilmung „Endstation Sehnsucht“ (1951): Lebenslängliche Einzelhaft

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