© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

Merkels feinsinniger Gegenspieler
Bundestag: Bundestagspräsident Norbert Lammert stellt sich immer häufiger gegen die Kanzlerin
Paul Rosen

Geschichtsschreiber späterer Generationen werden vermutlich einen Mann in ihren Werken aufführen, der sich zuerst und alleine gegen eine zunehmend autokratisch handelnde Regierung gestellt hat. Die Rede ist von Norbert Lammert. Der 62jährige CDU-Politiker ist der letzte prominente Vertreter der Christdemokraten, der sich der immer autoritärer regierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel entgegenstellt. Lammert, einer Bäckermeisterfamilie aus der westfälischen Ruhrgebietsstadt Bochum entstammend, erhebt regelmäßig das Wort gegen den Umgang der Regierung mit dem Parlament. Erst jüngst bescheinigte er ihr eine „gewisse Nachlässigkeit“.

Die Gegensätze zwischen Merkel und Lammert werden schon an den Lebensläufen deutlich: Die Hamburger Pastorentochter mußte mit den Eltern nach Rostock ziehen, weil sich der Vater im DDR-Sozialismus wohler fühlte als im Westen. Der Katholik Lammert ging auf ein altsprachlich-humanistisches Gymnasium. Wer diese Gymnasien aus den sechziger Jahren noch kennt, weiß, welche umfassende Bildung den Kindern dort mitgegeben wurde und daß das demokratische Rüstzeug von dort kam. Merkels FDJ-Sozialisierung in der DDR ist der Gegenentwurf dazu.

Beide sind von diesen Lebenswegen geprägt – das Gegeneinandergeraten war zwangsläufig. Merkels Schelte gegen Papst Benedikt XVI. zeigte ihr wahres Gesicht, während Lammert zwar als Kritiker des Zölibats auftritt, andererseits aber mit einer neuen Übersetzung des Vaterunser glänzt. Den Papst in den Bundestag einzuladen, wäre Merkel nie in den Sinn gekommen. Der Bundestagspräsident tat es. 

Dabei wären die Auseinandersetzungen vermutlich schon auf der Grabenkampfebene angekommen, wenn Lammert nicht die Kunst der feinen Ironie perfekt beherrschen würde. Schon seine erste Wahl zum Bundestagspräsidenten 2005, bei der er Dank der Großen Koalition 93,1 Prozent erhielt, kommentierte er mit der Bemerkung, er sei „geradezu erschüttert über den Vertrauensvorschuß“. Lammert ist nicht nur der „geübte Strippenzieher hinter den Kulissen“, wie ihn die Welt während seiner Zeit als Chef der mächtigen nord-rhein-westfälischen CDU-Landesgruppe im Bundestag titulierte, sondern ein an Kultur und Bildung orientierter Mann und damit auf einem Gebiet engagiert, zu dem Merkel der Zugang schwerfällt, auch wenn sie mit ihren Besuchen bei Bayreuther Wagner-Opern das Gegenteil zu demonstrieren versucht. Aus tiefer Überzeugung stammt Lammerts Forderung, die deutsche Sprache im Grundgesetz zu verankern. Die sich um Merkel gruppierenden kalten Handwerker der Macht müssen auf den feinsinnigen und langfristige Entwicklungen spürenden Lammert abstoßend wirken.

Früh erhob er warnend die Stimme gegen überzogene und bürokratisierende Verfassungsänderungen wie die Schuldenbremse. Daß selbst Eurobeträge in die Verfassung geschrieben werden sollten, ging Lammert zu weit. Dabei ist der Bochumer alles andere als ein Anti-Europäer. Aber er achtet auf die vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebene Stärkung der Rechte des Bundestages. Mit dem Grundübel, daß sich die große Mehrheit der Abgeordneten ihre Mitwirkungsrechte in europäischen Angelegenheiten ohne Gegenwehr von der Bundesregierung aus der Hand schlagen ließ und das Urteil nur einer kleinen Gruppe von Abgeordneten (unter anderem CSU-Mann Peter Gauweiler) zu verdanken war, muß Lammert leben. Das zeigt ihm, daß die breite Mehrheit der Volksvertreter bereit sein könnte, den Rufen der dunklen Seite zu folgen.

Wie stark der Gegensatz zwischen Lammert und Merkel ist, wird deutlich, wenn Lammert im Bundestag präsidiert und Merkel redet. Bei der ersten Debatte über die Folgen des Erdbebens in Japan wurde Merkels Rede massiv von rot-rot-grüner Seite mit Unruhe und Zwischenrufen gestört. Lammert griff nicht ein. Schon in der Affäre des als Hochstapler enttarnten Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ließ Lammert zu, daß der Verteidigungsminister im Plenum als Lügner und Betrüger beschimpft wurde – die Verwendung dieser Wörter zieht sonst Ordnungsrufe nach sich. Den Fall an sich bewertete er als „Sargnagel für das Vertrauen in unsere Demokratie“.

Die Fälle, in denen das Parlament von der Regierung übergangen wird, häufen sich. Zuerst war es das Gesetz zur Sperrung der Kinderporno-Seiten. Die Regierung beschloß ohne Beteiligung des Parlaments, es nicht anzuwenden. Die Wehrpflicht wurde ausgesetzt, ohne daß der Bundestag das Gesetz geändert hätte. Kernkraftwerke wurden nach einem Regierungsmoratorium abgeschaltet; der Bundestag wurde nicht befaßt. In europäischen Fragen droht eine zweistellige Milliardenzahlung Deutschlands an den Euro-Rettungsschirm und eine bestenfalls oberflächliche Information des Bundestages. Schon erinnerte Lammert Merkel an die „unmißverständliche Verfassungslage“. 

Lammert zieht seine Kraft aus Herkunft, Bildung und Glauben. Er hat das Zeug, zum wahren „Volksvertreter“ zu werden.

Foto: Angela Merkel und Norbert Lammert: Von kalten Handwerkern der Macht umgeben

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