© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Eine Wellnessreligion ist nicht gefragt
Friedrich Wilhelm Graf analysiert ein zunehmendes Problem der Kirchen in Deutschland – ausgerechnet bei der Glaubwürdigkeit
Gernot Facius

Die medial befeuerte Diskussion um die Mißbrauchsskandale in der katholischen Kirche haben das Faktum verdrängt, daß auch die protestantischen Landeskirchen unter einem signifikanten Vertrauensverlust leiden. Nimmt man die Zahl der Austritte, die konstant höher sind als beim ökumenischen Partner, zum Maßstab, dann greift bei ihnen die Krise viel tiefer.

Doch bedeutet der Exodus für viele Getaufte keineswegs den inneren Abschied vom Glauben. Ganz im Gegenteil, meint der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf. Nicht wenige der Enttäuschten machten mit der Grundunterscheidung von Christentum und Kirche ernst, es wachse die Zahl derer, die sich als Christen verstünden, aber mit den „verlotterten Kirchen nichts mehr zu tun haben, sie jedenfalls nicht mehr finanzieren wollen“. Graf beklagt in der Darstellung protestantischer Frömmigkeit eine Verlagerung des Schwergewichts vom Wort zum Mystisch-Sakramentalen. In diesem neuen mystisch-religiösen Symbolismus erkennt er einen gewichtigen Beitrag zur Stabilisierung kleiner Gruppen, die meist friedens- und umweltpolitisch hoch sensibilisiert sind: „Wer nicht zur jeweiligen Kleingruppe gehört, kann das hier symbolisch Kommunizierte gar nicht mitvollziehen.“

Je mehr das Wort hinter Symbolhandlungen zurücktritt, desto größer wird die „kognitive Dissonanz“ zwischen der Welt der Kirche und der Erfahrungswelt der Mehrheit der Protestanten. Graf ist im liberalen Theologen-Lager verortet, das gibt seiner Philippika wider die Kardinal-Untugenden der Kirchen Gewicht. Er hütet sich, von einem generellen Verfall der Predigtkultur zu sprechen, scheut sich aber nicht, auf Tendenzen der Trivialisierung und Infantilisierung der christlichen Botschaft hinzuweisen, die Verfälschung des religiösen Gehalts des Evangeliums durch moralische Reduktion anzuprangern: auf einen zeitgeistaffinen, trostreichen Heizkissengott für jede kalte Lebenslage.

Von Haltungen wie Gottesfurcht oder scheuer Ehrfurcht vor dem Heiligen sei in diesen Predigten nicht mehr die Rede. Der Autor spitzt seine Feder gegen einen „Seid nett zueinander“-Moralismus, er nennt die Dauerbeschwörung der „Bewahrung der Schöpfung“ eine theologisch gedankenlose Formel aus dem politischen Betrieb, er entrüstet sich über Besserwisserei und Selbstherrlichkeit auf der Kanzel. „Die moralische Arroganz, mit der einige Bischöfe etwa ‘die Banker’ als raffgierige, geldgeile Turbokapitalisten an den Pranger stellten, hat das Glaubwürdigkeitsproblem der Kirchen nur verstärkt.“

Man mag das alles als Polemik abtun. Graf versteht sich auf zugespitzte Meinungen, vor allem in der Auseinandersetzung mit den Positionen des Papstes, dem er vorhält, sich implizit die entscheidenden Elemente im antiprotestantischen Weltbild der Pius-Brüder zu eigen zu machen. Aber wer wollte ihm ernsthaft widersprechen, wenn er vor den Folgeproblemen der neuen protestantischen „Wellnessreligion“ warnt: Wer das gedankliche Anspruchsniveau des Christlichen fortwährend absenkt, hat den Leuten bald nichts Relevantes, Lebensdienliches mehr zu sagen! Er treibt gerade jene Menschen aus der Kirche hinaus, die die Normenbildung und Wertorientierungen in unserer Gesellschaft besonders stark beeinflussen.

Graf spricht aus, was Christen aus eigenem Erleben bestätigen können: Selbst am Heiligen Abend haben viele Prediger weder Kraft noch Mut, über Religion religiös zu reden. Die Krise der Kirche gründet in der Schwäche ihrer Theologie. Gegen diese Diagnose haben selbst Kritiker des Münchner Professors für Systematische Theologie und Ethik nichts einzuwenden. Kirche wird von Christen primär über die Person des Pfarrers wahrgenommen, das zeigen alle einschlägigen Studien. In Abwandlung eines alten politischen Wahlslogans läßt sich sagen: Auf den Pfarrer kommt es an! Gerade in einer multireligiöser werdenden Gesellschaft. Deshalb plädiert Graf für eine Aufwertung dieses Amtes, vor allem durch eine Stärkung der theologischen Kompetenz: „An ihren Pfarrern und Pfarrerinnen entscheidet sich die Zukunft der evangelischen Kirche.“

Friedrich Wilhelm Graf: Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen. Verlag C.H. Beck, München 2011, broschiert, 192 Seiten, 10,95 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen