© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Zuwanderung für die Wirtschaft
Die deutsche Krämerseele
Von Jost Bauch

Die Wirtschaft boomt, die demographische Entwicklung und die Bildungsmisere zeigen erste Auswirkungen, die Facharbeiter werden knapp. Sofort tönt es von den Wirtschafts- und Industrieverbänden: Wir brauchen mehr Zuwanderung! Beispielsweise forderte Hans Heinrich Driftmann, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages 2010: „Wir brauchen dringend mehr qualifizierte Zuwanderung aus aller Welt und zwar als Teil einer Gesamtstrategie gegen Fachkräftemangel.“

Driftmann rechnete vor, daß der Wirtschaft alleine 400.000 Ingenieure fehlen und daß damit der deutschen Wirtschaft rund 25 Milliarden Euro Wertschöpfung verlorengehen. Bis zum Jahr 2030 wird das Potential an Arbeitskräften um sechs Millionen Menschen demographiebedingt schrumpfen, zusätzlich wandern mehr Leute aus Deutschland aus als ein – ein jährlicher Wanderungsverlust von 13.000 Menschen. Die wirtschaftsfreundliche Welt kommentierte: „Deutschland leistet sich eine antiquierte Zuwanderungspolitik, die nicht auf Anwerbung, sondern auf Abschreckung setzt“ (17. Oktober 2010).

Angesichts dieser Forderungen fragt man sich, ob Teile der großbürgerlichen, eher konservativ ausgerichteten Wirtschaftselite unseres Landes den politischen Überblick verloren haben oder ob sie von ihren kurzfristigen Profitinteressen so übermannt sind, daß sie über den Tellerrand ihrer Krämerseele nicht hinausschauen können. Um zu verstehen, warum Teile des Bürgertums eher zu den Migrationsbefürwortern gehören, ist es sinnvoll, sich das „der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliche Populationsgesetz“ bei Karl Marx genauer anzusehen. Nach Marx gibt es nämlich ein Gesetz der „relativen Übervölkerung“ (Das Kapital, Band I), das die Position der „Kapitalisten“ in der Migrationsfrage in erstaunlicher Deutlichkeit erklärt.

Nach Marx hängt diese Position des Bürgertums mit den „Gesetzen der kapitalistischen Akkumulation“ zusammen. Die Gesetze der Akkumulation führen zur Entstehung des Weltmarktes und zur Globalisierung der Produktion. „Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen“ (Kommunistisches Manifest). Entsprechend der Internationalisierung der Produktion braucht der Kapitalismus über Ländergrenzen hinweg disponible Menschenmassen, eine „disponible industrielle Reservearmee“. Diese Reservearmee kann, wenn sich die Zentren der profitablen Produktion verschieben, sofort „und ohne Abbruch der Produktionsleiter in andren Sphären auf die entscheidenden Punkte werfbar sein“ (Kapital, Band I).

Diese disponiblen Menschenmassen sind bei globalisierter Produktion aber nicht mehr in den Grenzen des Nationalstaates rekrutierbar: „Der kapitalistischen Produktion genügt keineswegs das Quantum disponibler Arbeitskraft, welches der natürliche Zuwachs der Bevölkerung liefert. Sie bedarf zu ihrem freien Spiel einer von dieser Naturschranke unabhängigen industriellen Reservearmee“ (ebenda).

Die industrielle Reservearmee, die „Surplusarbeiterpopulation“ als relative und migrationsfähige Überbevölkerung der kapitalistischen Produktion hat dabei nicht nur die Funktion, schnell am richtigen Ort der Produktion einsetzbar zu sein, sie hat auch die Funktion, die Lohnkosten in Schach zu halten.

Auch die Arbeitskraft ist eine Ware, und je mehr davon auf dem Markt ist, desto billiger ist sie zu haben. Die kapitalistische Produktion produziert dabei automatisch ihre industrielle Reservearmee. Denn durch die Zunahme des konstanten Kapitals und die damit verbundenen Produktivitätssteigerungen kann eine bestimmte Summe von Produkten mit immer weniger Arbeitskräften erstellt werden. „Die kapitalistische Akkumulation produziert (...) beständig eine (...) für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung“ (ebenda).

Marx nahm in diesem Zusammenhang fälschlicherweise an, daß durch die Zunahme des konstanten Kapitals mit seinen Produktivitätsfortschritten, geschicktere Arbeiter durch ungeschicktere ersetzt werden können und daß es dadurch zu einer durchgängigen Pauperisierung (Verarmung) der Arbeiterklasse kommen müsse. „Die Überarbeit des beschäftigten Teils der Arbeiterklasse schwellt die Reihen der Reserve, während umgekehrt der vermehrte Druck, den die letztere durch ihre Konkurrenz auf die erstere ausübt, diese zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate des Kapitals zwingt“ (ebenda). So führt die pauperisierte Reservearmee zur Pauperisierung des zunehmend unqualifizierten Teils der Arbeiterschaft.

Wie wir heute wissen, ist diese entscheidende Prognose von Marx, die die sozialistische Revolution begründen und notwendig machen sollte, nicht eingetroffen. Marx unterschätzte den Einfluß der Gewerkschaftsbewegung und hat die Entwicklung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates nicht vorausgesehen.

In wirtschaftlichen Boom-Zeiten nun reicht die Freisetzung von Arbeitskraft aus dem Produktionsprozeß durch Rationalisierung und Automatisierung der Produktion nicht aus, um den erweiterten Bedarf an Arbeitskräften zu befriedigen. Die Produktion steigt derart, daß die Nachfrage nach zusätzlicher Arbeitskraft nicht alleine aus dem Menschenreservoir der durch Rationalisierung freigesetzten Arbeitskraft erfüllt werden kann. Es droht Voll- und „Überbeschäftigung“ mit – aus der Sicht des Kapitals – verheerenden Folgen für die Löhne, die durch eine Reservearmee nicht mehr in Schach gehalten werden können.

Das kapitalistische Populationsgesetz, die Schaffung einer relativen Überbevölkerung durch die Gesetze der kapitalistischen Akkumulation greift nicht mehr: „Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eigenen Überzähligmachung“ (ebenda). Kompensatorisch springt an dieser Stelle im Zeitalter der Globalisierung die Migration ein.

Mittels Migration gelingt es, das Arbeitskräftereservoir wieder aufzufüllen, die Löhne können sinken, die Produktion läuft durch optimierte Stellenbesetzung wieder rund. Eine Schlußfolgerung aus der marxistischen Analyse drängt sich auf und wird den überwiegend linken Migrationsbefürwortern gar nicht gefallen: Wer für ungesteuerte Massenmigration ist, ist ein williger Vollstrecker der Imperative der Prozeßlogik des Kapitals.

Welche vermeintlichen Idealismen die Migrationsbefürworter auch immer bewegt haben mögen – hinter der Forderung nach mehr Migration verbirgt sich die stählerne Maske der kapitalistischen Verwertungsbedingungen. Der wohlwollende Protagonist von Multikulti wird so zum „nützlichen Idioten“ des Kapitals. Die relativ kurzfristigen Profitinteressen prägen auch und anscheinend ausschließlich die Einstellungen des Bürgertums in der Migrationsfrage, sie begründen die „Charaktermasken“ weiter Teile des Bürgertums.

Auch wenn sich abzeichnet, daß der Wirtschaftsboom nicht ewig hält, daß ihm notwendigerweise eine Baisse folgt, kann der Kapitalist relativ sorgenfrei den Profit mitnehmen. Die Folgen der Schaffung einer neuen industriellen Reservearmee in schlechteren Zeiten werden „sozialisiert“ und an den Sozialstaat adressiert.

Argumente gegen eine solche allein aus ökonomischen Gründen legitimierte Zuwanderung bleiben ungehört. Da hilft es wenig, wenn beispielsweise der CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt betont, daß man den Facharbeitermangel zunächst im eigenen Land lösen müsse, „ohne daß wir uns die Probleme der letzten Zuwanderungswellen wiederum reinholen, die wir heute noch nicht einmal behoben haben“. Und der CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl setzt nach, „daß es der Wirtschaft doch nur um willige und billige Arbeitskräfte gehe, die man dem Staat dann vor die Nase setzt zur Hartz-IV-Alimentation, wenn sie nicht mehr willig und billig sind“ (Welt, 17. Oktober 2010).

Wie kurzfristig die Wirtschaftsbosse mit ihrer Einwanderungsforderung denken, wird alleine durch die „legale Völkerwanderung“ deutlich, die ab dem 1. Mai 2011 eintreten wird. Denn ab dann gilt Niederlassungsfreiheit für 70 Millionen Menschen aus den EU-Beitrittsländern Osteuropas. Die nächste Migrationswelle ist absehbar.

Man kann eine Forderung nach mehr Zuwanderung, weil die Wirtschaft gerade boomt, nur stellen, wenn man den Menschen, sowohl den Zugewanderten als auch den alteingesessenen autochthonen auf einen homo oeconomicus reduziert. Teile des Bürgertums haben offensichtlich außerhalb kurzfristiger ökonomischer Interessen keine Referenzpunkte für ihre politischen Präferenzen. Daß es bei weiterer Zuwanderung größeren Ausmaßes – egal ob gut oder schlecht ausgebildeter Migranten – zu einem Austausch der Bevölkerung kommt, daß die Deutschen nach dem bis Ende 1999 geltenden Staatsangehörigkeitsrecht zu einer Minderheit im eigenen Land werden – das alles stellt keinen Wert dar, Hauptsache die Wirtschaft brummt. An dieser Stelle zeigt sich auch, wie kurzsichtig im Jahr eins nach Thilo Sarrazins Buch die sogenannte Integrationsdebatte geführt wird.

Ein gut integrierter Migrant ist natürlich besser als ein wenig integrierter. Aber unabhängig von der Integrationsfrage geht es doch auch darum, daß die Deutschen im ethnischen und kulturellen Sinne im eigenen Land die Mehrheit behalten. Erst dann macht ja auch die Integration von Migranten Sinn, warum sollte sich eine Bevölkerungsminorität sonst in die Kultur einer anderen Bevölkerungsminorität integrieren. Im übrigen ist dies genau der Kern der Überlegungen von Thilo Sarrazin: „Ich möchte nicht, daß wir zu Fremden im eigenen Land werden.“ Die Frage der Integration der zu uns kommenden Migranten ist natürlich wichtig, aber sie ist sekundär gegenüber der Frage, ob Deutschland eine Mehrheitsgesellschaft bleibt oder in eine Multiminoritätengesellschaft zerfällt.

Die Zahlen der Demographie sind eindeutig und nicht zu widerlegen: Bleibt es bei der Nettoreproduktionsrate der deutschen autochthonen Bevölkerung der letzten 40 Jahre, dann wird im Verlaufe der folgenden drei Generationen die Zahl der Deutschen bis zum Jahr 2100 auf 20 Millionen sinken, bleibt es bei der hohen Geburtenrate der muslimischen Bevölkerung und fortgesetzter Einwanderung, so wird diese im Jahr 2100 auf 35 Millionen steigen. Von den Minoritäten sind die Deutschen dann schon nicht mehr die stärkste! Diese Frage wird indes in der Öffentlichkeit immer noch nicht diskutiert, sie wird allenthalben auf eine Integrationsdebatte verkürzt.

Teile des Großbürgertums verkürzen die Migrationsfrage ökonomisch; sie sind an Fragen der Bevölkerungszusammensetzung und der kulturellen Homogenität gar nicht interessiert. Karl Marx lästerte nicht umsonst über die Kapitalisten, sie seien so sehr vom Profit beseelt, daß sie auch noch den Strick verkaufen, mit dem man sie aufhängt.

 

Prof. Dr. Jost Bauch,  Jahrgang 1949, lehrt Medizinsoziologie an der Universität Konstanz und ist Mitherausgeber der Fachzeitschrift       Prävention. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Nation als Option („Wähl dir dein Land“, JF 52/10-01/11).

Foto: Traum deutscher Wirtschaftsbosse: Ein Reservoir von billigen und willigen Arbeitskräften ohne störende ethnische Barrieren oder nationale Grenzen

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