© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Risiko und Nebenwirkung
Kon­ iktfall Kernenergie: Die Katastrophe in Japan hat die Debatte um das Für und Wider der Atomkraft erneut angeheizt. Ist nun ein sofortiger Ausstieg geboten oder sind deutsche Meiler sicherer und unverzichtbar? Zwei kontroverse Positionen:
Christian Bartsch / Volker Kempf

Christian Bartsch:

Deutschland ist vergleichsweise bevölkerungsreich und zugleich rohstoffarm. Es sind kaum Bodenschätze vorhanden, rund ein Drittel der Landfläche wird von Wald bedeckt. Zur Energieerzeugung steht praktisch nur die einheimische Braunkohle zur Verfügung. Als Deutschland ab 1955 wieder Kerntechnik-Forschung betreiben durfte, wurden eine Reihe von Reaktorlinien entwickelt und die ersten kommerziellen Kernkraftwerke geplant. Sie waren eine absolute Notwendigkeit, weil sie die höchste Energiedichte boten, den geringsten Flächenbedarf, die geringsten Brennstoffkosten, die geringste Menge an produziertem Abfall und überhaupt keine Abgase hatten, unter denen die Ballungszentren damals litten. Die Kernenergie war der richtige Ansatz, um die energiepolitische Souveränität Deutschlands zu erreichen und die Strompreise auf Dauer niedrig zu halten.

Politische Kurzsichtigkeit beendete den Bau neuer Kernkraftwerke aber auch die Kernforschung schon vor der Katastrophe in Tschernobyl: ein unverzeihlicher Fehler, weil damit trotz optimaler Sicherheitsstandards  die gesamte Forschungslandschaft in Deutschland auszutrocknen begann.  Durch die Beschlüsse einiger Landesregierungen, die das Geschrei der Grünen für die „Stimme des Volkes“ hielten, selbst jedoch über keinerlei Sachkenntnisse verfügten, wurde die Forschung an den neuen Kugelhaufenreaktoren (HTR) sowie an den sogenannten Schnellen Brütern praktisch eingestellt. Sie werden nun in Rußland und China entwickelt. Dabei war der HTR der sicherste kerntechnische Reaktor überhaupt, weil die Spaltungsreaktion von allein erlosch, wenn alle Funktionen abgeschaltet wurden. Ein „GAU“ war nicht möglich, der Reaktor erkaltete einfach, wie durch einen Großversuch nachgewiesen wurde. Mit dem Schnellen Brüter aber konnte die Menge des Kernbrennstoffs auf ein Sechzigstel reduziert werden, im gleichen Umfang schrumpfte auch der nicht mehr verwertbare Abfall.

Deutschland liegt im Gegensatz zu Japan in einer der geologisch ruhigsten Zonen der Erde. Es gibt weder Plattengrenzen noch tätige Vulkane. Tsunamis sind weder in der Nord- noch in der Ostsee zu erwarten. Bei der Errichtung der Kernkraftwerke wurden alle denkbaren Störeinflüsse genau analysiert. Auf terroristische Angriffe brauchten die Ingenieure keine Rücksicht zu nehmen, sie sind auch heute außerordentlich unwahrscheinlich. Wer ein Flugzeug abstürzen lassen will, sucht sich dafür eher ein vollbesetztes Fußballstadion aus, um sein mörderisches Werk zu vollenden.

Dagegen liegt Japan direkt am sogenannten „Feuerring“ rund um den Pazifik auf der Grenze von gleich vier tektonischen Platten, die gegeneinander arbeiten. Darum gibt es dort häufige Erdbeben, die Tsunamis auslösen können. Dies wurde beim Bau des ältesten japanischen Kernkraftwerks wahrscheinlich zu wenig berücksichtigt. Die dort installierten Siedewasserreaktoren unterscheiden sich von den deutschen Reaktoren vor allem in der technischen Ausführung und durch die Sicherheitssysteme, die hierzulande erheblich weiter fortgeschritten sind. Die japanischen Reaktoren verfügen über zweisträngige, die deutschen über viersträngige Sicherheitssysteme. Auch bei der Bauart der Sicherheitsbehälter gibt es Unterschiede. Bei allen deutschen Kernkraftwerken stehen mehr und modernere Dieselgeneratoren bereit. Die Meldungen aus Japan legen zudem menschliches Versagen nahe, da die elektrisch angetriebenen Kühlwasserpumpen aus Batterien gespeist wurden, deren Kapazität nur kurze Zeit reichte. Warum sind die Diesel nicht angesprungen? Gab es nicht genügend Dieselkraftstoff? Es scheint auch niemand daran gedacht zu haben, den Kraftstoff per Hubschrauber anzufordern.

Nichts wird in Deutschland derartig akribisch überwacht wie die Kernkraftwerke. Alle, auch die ältesten, wurden stetig nachgerüstet. Allein aus geographischen Gründen, aber auch wegen des extrem hohen Sicherheitsstandards ist ein Katastrophe wie in Japan auszuschließen. Wer jetzt etwa fordert, alle deutschen Kernkraftwerke sofort stillzulegen, muß bedenken, welche Folgen das hätte – nämlich einen katastrophalen Zusammenbruch unseres Energienetzes. Es würde Wochen dauern, bis überall in Deutschland die Lichter wieder brennen. Alle Zentralheizungen, Kühlschränke, Küchenherde fielen aus, die Bahn bliebe stehen, die Tankstellen könnten trotz voller Tanks keinen Kraftstoff mehr fördern, sämtliche Fertigungsstätten stünden still – kurzum: Es herrschte das reine Chaos. Sieht so etwa das ökologische Paradies aus?

 

Volker Kempf:

Japan hat sich darauf verlassen, daß ein Jahrhundertbeben wie das von 1923 mit einer Stärke von 7,9 auf der Richterskala für die Region in etwa das Erdbebenmaximum markiert. Aber wie stark ist ein Jahrtausenderdbeben? Keiner konnte das sagen. Dennoch wurde in einem dicht besiedelten Land auf Atomtechnik gesetzt, das nun die Unkontrollierbarkeit des atomaren Höllenfeuers erlebt.

Betrachtet man die Erdbebenproblematik, so ist diese in Mitteleuropa eine andere als in Asien. Das stärkste Erdbeben war in unserer Region im 14. Jahrhundert dasjenige in Basel. Dieses Beben hatte die Stärke 6,7. Für die einzelnen Standorte der Kernkraftwerke in Deutschland gibt es für die Sicherheitstechnik zugrunde gelegte Annahmen über mögliche Erdbebenstärken. Dabei wird nach Auffassung einiger Wissenschaftler aber übersehen, daß geologische Prozesse „sich nicht unbedingt gleichartig in die Zukunft hinein fortsetzen brauchen“, wie der in Hamburg lehrende Geographie-Professor Eckhard Grimmel betont. Es gibt in den Wissenschaften keine einheitliche Meinung darüber, ob die Annahmen für mögliche Erdbeben, die für die Sicherheitstechnik deutscher Anlagen zugrunde gelegt werden, ausreichen.   

Die Gefahr für den Betrieb von Atomanlagen besteht zudem nicht nur in der Möglichkeit der Verschiebung von Erdplatten: Statistisch ausgedrückt schlägt alle 120.000 Jahre ein großer Meteorit ein. Den genauen Zeitpunkt kennt niemand; sicher ist nur, daß die Erdbebenwellen, die solch ein Meteorit verursachen würde, ausreichten, um eine Reihe von Anlagen einer Situation auszusetzen wie sie in Japan eingetreten ist. 

Zu den näherliegenden Risiken zählen Terrorismus und kriegerische Handlungen. Mit konventionellen Mitteln und Waffen kann durch einen Angriff auf ein Atomkraftwerk ein atomarer Schlag inmitten eines dicht besiedelten Raumes ausgeübt werden. Die Ereignisse vom 11. September 2001 haben verdeutlicht, daß es hier um mehr als nur um eine bloße abstrakte Bedrohung geht.

Auch gab es immer wieder Beinahekatastrophen. So geriet erst 2006 ein schwedisches Atomkraftwerk mit deutscher Technik nach einer Verkettung von Pannen in eine kritische Situation. Für Glück im Unglück ist Harrisburg in die Geschichtsbücher eingegangen; aber es muß nicht immer so glimpflich ablaufen wie 1979 im Fall des amerikanischen Meilers. Der größte Unsicherheitsfaktor bleibt bei der Atomtechnik aber immer der Mensch. Er sitzt in Verwaltung, Politik und Wirtschaft, macht Fehler und läßt sich mitunter von niederen Beweggründen leiten. Wenn wir in Zeiten des Kulturverfalls leben, wofür einiges spricht, so liegt gerade hier das größte Wachstumspotential für Risiken beim Betrieb von Atomkraftwerken.

Neben den Risiken für einen „Super-GAU“ durch Naturkatastrophen, Terror, Krieg und menschliches Versagen gibt es noch ungelöste Probleme mit dem Normalbetrieb. Die Endlagerungsfrage von radioaktiv strahlendem Müll ist nach wie vor ungeklärt. Was da gelagert wird, strahlt viele Jahrtausende vor sich hin. Halbwertszeiten für Isotope des Plutoniums liegen zwischen 20 Minuten und 76 Millionen Jahren. Künftige Generationen werden mit radioaktiven Stoffen vielleicht gar nicht umgehen können. Eine schwere Erblast, die da entsteht.

Viel wird von der Perfektion in der Atomwirtschaft gesprochen. Doch was da über Generationen sicher gelagert werden soll, hat im Fall des atomaren Lagers Asse keine 30 Jahre gehalten. Die Kosten dafür trägt der Bund. Es entstehen gesamtwirtschaftliche Kosten, die nur teilweise über den Strompreis zum Ausdruck kommen. Der Atomstrom wäre nicht so billig, wären nicht schon etwa 200 Milliarden Euro an Subventionen in diese Technologie geflossen.

Jeder Energieträger birgt Vor- und Nachteile in sich, die gegeneinander auszuspielen leicht ist. Es ist letztlich eine politische Entscheidung, welche Vor- und Nachteile wie gewichtet werden. Die Risiken und Probleme treten also schon im Normalbetrieb der Kernkraftwerke zutage. Zudem sind auch die Uranvorräte begrenzt. Hinzu kommt, daß die Erzeugung von Atomstrom wenig arbeitsintensiv ist. Die Nutzung anderer Energieformen ist daher für die Schaffung von Arbeitsplätzen um so interessanter. Maisstauden etwa werden noch immer kaum genutzt. Energiesparen ist ebenfalls eine Option, und auch die hierzulande sinkende Zahl der Verbraucher ist zu berücksichtigen. Daß ohne Atomstrom die Lichter ausgingen, ist ein überholtes Schreckensszenario aus den siebziger Jahren.

 

Energie in Deutschland

Am Dienstag entschied Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) unter dem Eindruck der Störfälle in Japan, sieben deutsche Atomkraftwerke (AKW) vorübergehend vom Netz zu nehmen. Betroffen sind die Meiler Brunsbüttel, Unterweser, Biblis A und B, Isar I, Philippsburg I und Neckarwestheim I. Das AKW Krümmel war schon früher abgeschaltet worden. Insgesamt stehen in Deutschland 17 Kernkraftwerke (sechs mit Siede- und elf mit Druckwasserreaktoren). Die damalige rot-grüne Bundesregierung hatte 2002 den Ausstieg aus der Kernenergie – samt einer Restlaufzeit für die bestehenden Meiler – beschlossen. Demnach sollten 2012 die ältesten und bis spätestens 2022 die jüngeren AKW endgültig abgeschaltet werden. Die schwarz-gelbe Koalition verständigte sich 2009 auf eine Laufzeitverlängerung: Demnach wären die Abschalttermine auf die Jahre 2018 bis 2036 verlegt worden.

Der Anteil der Kernenergie an der allgemeinen Stromversorgung in Deutschland betrug im Jahr 2009 etwa 23 Prozent. Legt man den Grundlaststromversorgungsanteil zugrunde, also die permanent benötigte Leistung, die wegen fehlender Speichermöglichkeiten nicht von Wind- oder Sonnenenergie bereitgestellt werden kann, betrug der Atomenergie-Anteil sogar 48 Prozent. Etwa 40 Prozent der Stromerzeugung erfolgten im Jahr 2009  aus Kohle, gut 16 Prozent aus erneuerbaren Energien.

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