© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/11 11. März 2011

Der Flaneur
Todestrieb und Ramazzotti
Josef Gottfried

Wien ist eine Metropole, gebaut, um ein Weltreich zu regieren. Wir gehen ihre Gassen, Straßen und Ringe entlang: Auf dem Zentralfriedhof liegen drei Millionen Menschen, unter dem Stephansdom die Knochen etlicher tausend anderer, Adel und hoher Klerus mit Namen benannt, die Tausenden liegen nur so dort, stinken nicht mehr nach Tod, es ist kalt, ich kann mir den Knochengeruch nur einbilden.

Jetzt liegen sie da, die Wesen, sortiert und geschichtet, über uns der Stephansplatz und das Leben, das sich selbst zu genügen scheint, sich mit stolzen Marmorplatten an Fassaden mit Stalin, Beethoven, Freud, sonstwem rühmt, die hier genächtigt, Kaffee getrunken, sonst etwas getan haben, dazwischen die gut sortierten Antiquariate, die Lokale mit ihren Spezialitäten für Touristen, vermutlich über 72 Jahre von dem entfernt, was uns so sehr an dieser Kaffeehauskultur fasziniert.

Es gibt noch Museen zu betrachten, die angesichts dieses Mißverhältnisses zwischen Größe und Bedeutung Wiens super ausgestattet sind, tatsächlich einer Weltstadt gerecht würden.

Darüber kommen wir doch noch mit ein paar jungen und gut angezogenen Wienern ins Gespräch, trinken italienischen Kräuterlikör in einer Stadtteilkneipe, außerhalb des Zentrums, die Häuserzeilen hier könnten auch in Dortmund stehen, es darf noch geraucht werden, fein, so stolpere ich irgendwann aus der Tür, wanke zu meiner Pension.

Vorbei an der Vega-Payer-Weyprecht-Kaserne, benannt nach Entdeckern, gebaut als eine von vielen in Wien, für das Weltreich, dort wird mir dann endlich schlecht, ich stütze mich mit der linken Hand an der Kasernenmauer ab, beuge mich nach vorn und erbreche mein Unbehagen. Dann schaue ich neben meine linke Hand, die mich stützt: Die Mauer ist so dermaßen marode, daß Gras auf ihr wächst.

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