© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/11 11. März 2011

Markt ohne Staat, Staaten ohne Märkte
Wirtschaftshistorische Betrachtungen des Bremer Juristen Christian Joerges zu „Europa nach dem Ordoliberalismus“
Rudi Braatz

Ob Menschen, die ihre Brötchen als Wirtschaftswissenschaftler verdienen, wirklich Wissenschaftler sind, ist nicht erst nach Debakeln fraglich, die die sogenannten „Analytiker“ dieser Branche zwischen der „Asienkrise“ der 1990er und der jäh an den „Abgrund“ (Angela Merkel) führenden US-Immobilienkrise samt Eurokrise erleben mußten. Die früher so genannten Nationalökonomen teilen den Verdacht, im wissenschaftlichen Gewand eher von Interessen gesteuerte Allotria zu treiben mit den benachbarten Juristen, die ebenfalls nur „Wahrheiten“ mit knapp bemessenen Verfallsdaten liefern können. Es ist nicht das erklärte Ziel des an der Universität Bremen Wirtschaftsrecht lehrenden Christian Joerges, derartige Skepsis gesunden Menschenverstandes zu nähren. Aber sein „Eine Philippika“ verheißender Essay über „Europa nach dem Ordoliberalismus“ (Kritische Justiz, 4/2010) vermittelt gleichwohl die eigentümliche „Praxisgebundenheit“ der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften in einer Drastik, wie sie sonst nur in dem berühmten Diktum zum Ausdruck kommt, der Federstrich des Gesetzgebers könne über Nacht ganze Bibliotheken juristischer Literatur zu Makulatur entwerten. Joerges scheint nur vordergründig ein Kapitel Wisenschaftsgeschichte über eine während der Weimarer Republik, zwischen den Konvulsionen rasender Geldentwertung (1922/23) und globaler Depression (1929/33), sich formierende nationalökonomische Fraktion der „Ordoliberalen“ skizzieren zu wollen.

Franz Böhm, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Walter Eucken waren die Protagonisten dieser Schule, die dem entfesselten „Paläoliberalismus“ (Rüstow) und seinen Verheerungen den Rücken kehrten, um den „dritten Weg“ zwischen Laissez-faire-Liberalismus und sozialistischer Planwirtschaft zu beschreiten. Nicht allein Joerges, auch die rührige wirtschaftshistorische Forschung jüngeren Datums will in diesen Rezepten allerdings einen „kräftigen Schuß Schmittianismus“ herausschmecken. Gemäß dem Credo des Berliner Staatsrechtlers: „Starker Staat und gesunde Wirtschaft“ (1932).

Trotzdem betont Joerges den tiefen Graben, der sich zwischen Carl Schmitt und Rüstow & Co. auftue. Schmitts Staat sollte den Vorrang der regulierenden Politik vor der Wirtschaft „ohne rechtliche Rücksichtnahmen“ durchsetzen, während die Ordoliberalen „der Wirtschaft einen stabilen rechtlichen Rahmen verordnen wollten, den die Politik zu respektieren hatte“. Schmittianismus hin oder her, während des Dritten Reiches fanden sich die Ordoliberalen jedenfalls in der Emigration, oder, wie Euckens „Freiburger Kreis“, im Widerstand gegen das NS-Regime wieder. Um so triumphaler fiel ihre Präsenz in den Entscheidungszentren nach 1945 aus. Geist und Macht hatten einander gefunden.

Unter der Fahne der „sozialen Marktwirtschaft“ (Alfred Müller-Armack, 1946) gestalteten diese Wirtschaftstheoretiker, getragen von einer breiten Zustimmung der Kirchen, des politischen Protestantismus wie des sozialen Katholizismus, der Parteien und Gewerkschaften, die Gesellschaftsverfassung eines noch besatzungsrechtlich gefesselten Staatsgebildes, das in D-Mark und Wirtschaftswunder seine neue deutsche „Ersatz-Identität“ (Michel Foucault) fand. In der Bonner Republik vollzog sich nach ihren Maßgaben „die Restauration des Bismarckschen Wohlfahrtsstaates unter dem katholischen Kanzler Adenauer“. Zwar keineswegs nach einem konzisen theoretischen Konzept, aber nach ihren pragmatisch, interventionistisch gehandhabten Leitlinien.

Im Urteil des seit 1960 an Einfluß gewinnenden Friedrich A. von Hayek hatte dieser erfolgreiche „autoritäre Liberalismus“ aber bereits den „Weg in die Knechtschaft“ sozialistischer Planwirtschaft angetreten. Der Hayek-Flügel setzte dann ausgerechnet seine moderateren ordoliberalen Hoffnungen auf die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“. In gewohnter Machtorientierung erwartete man von den Brüsseler Bataillonen eine Zähmung des in den 1970ern europaweit dominanten „Sozialdemokratismus“. Die supranationalen Institutionen der EWG sollten die nationalstaatlich „gefährdeten“ wirtschaftlichen „Freiheiten“ und den „Schutz des Wettwerbs“ garantieren.

Als Folge der seither auftretenden Paradoxien des europäischen Integrationsprojekts beginnt Joerges’ „Philippika“ von hier ab aus dem Ruder zu laufen. Seine Darstellung kann die widersprüchlichen Realitäten nachrationalisierend kaum noch in eine stringente Erzählung übersetzen. Wissenschaftshistorisch scheint sie ohnehin auf einem toten Gleis zu enden. Denn die von den Hayek-Liberalen enthusiastisch begrüßte „Deregulierungs- und Privatisierungspolitik“, die 1985 der EU-Kommissionspräsident Jacques Delors anschob, schlug zu deren maßloser Enttäuschung um in eine „hochentwickelte Regulierungsmaschinerie“, die sich weit über die Wirtschaft hinaus auf Umwelt-, Arbeits- und Verbraucherschutz erstreckte und die doch gleichzeitig als ein Türöffner für den US-„Paläoliberalismus“ wirkte.

Trotz dieser marktradiaklen Beimischung ging die jüngere Generation des „Neo-Ordoliberalismus“ mit dem Vertrag von Maastricht (1991) endgültig auf kritische Distanz zur EU. Darum ist für Joerges das „ordoliberale Denkmuster“ weder in noch außerhalb Europas „anschlußfähig“. Das liege an seiner „sehr deutschen Tradition“, an der „angelsächsischen Übermacht in der Wirtschaftswissenschaft und den Law- und Economic-Schulen“, primär jedoch, was Joerges übergeht, an politischen und ökonomischen Machtkonstellationen, die an einer Renaissance vor allem des älteren, in der frühen Bundesrepublik so erfolgreichen Ordoliberalismus der „sozialen Marktwirtschaft“ nicht das geringste Interesse haben können.

Nachdem Ordoliberale in Theorie und Praxis, in Hörsälen und Ministerien auf dem Rückzug waren, belebte das Bundesverfassungsgericht die vom Hayek-Flügel einst „in Europa“ investierten Hoffnungen. Das Karlsruher Maastricht-Urteil (1993) gab zwar vor, einerseits die nationale demokratische Substanz vor ihrer Auflösung im Brüsseler Bundesstaat zu bewahren, schränkte aber andererseits im Rückgriff auf ordoliberale Ideologeme die Kontrolle der Mitgliedstaaten über ihre Volkswirtschaften ein. Sei doch die transnationale Wirtschaftsintegration ein „unpolitischer“ Prozeß. Die EU dürfe sich daher ungehindert als „Markt ohne Staat“ konstituieren, auch wenn ihre Mitglieder nur als „Staaten ohne Markt“ fortbestünden. Griechenlands Staatsbankrott habe den Widersinn solcher Konstruktionen offenbart. Die Mitgliedstaaten könnten nicht mehr eigenständig handeln, und ein supranationales Kriseninstrumentarium gebe es nicht. Wenn es jetzt als „EU-Wirtschaftsregierung“ Gestalt annehme, stelle man die Weichen für einen Bundesstaat, dessen Wirtschaftspolitik alles andere als ordoliberal ausfiele. Aber auch hierfür fände sich schließlich ein ideologischer Raumausstatter.

Joerges empfiehlt die Wiederentdeckung eines Zeitgenossen von Hayeks: Karl Polanyi (1886–1964). Der habe erkannt, daß „Märkte“ weder von selbst entstünden noch sich selbst erhalten könnten. Die marktschaffende und regulierende Praxis Brüsseler Politik werde dank Polanyis Hilfe ohne ordoliberale Friktionen mit der Theorie versöhnt. Daß der ungarische Wirtschaftshistoriker zu den sozialistisch angehauchten Predigern einer „Herrschaft der Gesellschaft über die Wirtschaft“ zählte, die er in den Dienst nebulöser „Ziele der Menschheit“ zu pressen gedachte, verrät sein mit ihm sympathisierender Bremer Zunftkollege nicht. Die Eignung Polanyis zum postumen Ideenlieferanten einer künftigen Brüsseler Wirtschaftsregierung stellen solche Prägungen jedenfalls nicht in Frage.

„Kritische Justiz“. Vierteljahresschrift für Recht und Politik (KritJ oder KJ)  www.kj.nomos.de

Foto: Berliner Passanten bestaunen die Schaufensterauslagen nach Währungsreform und Ende der sowjetischen Blockade, Mai 1949: Dritter Weg mit kräftigem Schuß Schmittianismus

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