© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/11 11. März 2011

Geschichtspolitik als Herrschaftsinstrument
Die Canossa-Republik
von Klaus Hornung

Im Herbst 1989 veröffentlichte Johannes Gross den Band „Phönix in Asche“ mit Essays zur deutschen Politik kurz vor der Wende jenes Jahres. Der Autor fragte, warum der deutsche „Phönix“ 45 Jahre nach der Katastrophe noch immer „im Nest“ hocke. Der kluge Konservative konstatierte einen unverkennbaren „Substanzverlust der deutschen Politik, der durch Moralisieren aufgefüllt wird“, durch eine eigentümlich ritualisierte Reue. Und dann fielen Sätze wie Hammerschläge: „Die Verwaltung der deutschen Schuld und die Pflege des deutschen Schuldbewußtseins sind ein Herrschaftsinstrument. Es liegt in der Hand aller, die Herrschaft über die Deutschen ausüben wollen, drinnen wie draußen.“

Wie war es dazu gekommen? Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war dieser ideologische Krieg in seine zweite, politische Runde gegangen. Das Ziel der Sowjetunion war die Durchsetzung des „Antifaschismus“ sowjetmarxistischer Prägung im besiegten Deutschland. Die Vereinigten Staaten begannen ihr Programm der Umerziehung der Deutschen – weg von ihren sogenannten autoritären und militaristischen Traditionen hin zu den westlichen Werten der Demokratie und des Individualismus. Dem totalitären Druck in der SBZ und DDR gelang gegen manchen Widerstand die weitgehende Durchsetzung der sowjetischen Staatsideologie.

Die Westdeutschen benötigten in ihrer großen Mehrheit nicht der Nachhilfe durch die amerikanische Umerziehung, um den totalitären Charakter der NS-Diktatur und ihre Verbrechen zu erkennen. Die erste frei gewählte westdeutsche Regierung verfolgte ihren Kurs der Westoption und der Wiedergewinnung der Bündnis- und Politikfähigkeit zielstrebig und selbstbewußt. Gegen den Druck der Sowjetunion, die bis vor die Tore Hamburgs und in die deutsche und europäische Mitte vorgedrungen war, wuchs hier ein antikommunistischer und antitotalitärer Konsens, der weit in die Sozialdemokratie hineinreichte.

In Westdeutschland entfaltete sich eine gründliche „Aufarbeitung“ der nationalsozialistischen Vergangenheit. Der KZ-Häftling Eugen Kogon unterrichtete als erster die Deutschen über den SS-Staat und sein Konzentrationslagersystem schon 1947. Der Historiker Gerhard Ritter, im Dritten Reich im Widerstand aktiv, ließ in seinen Büchern, Vorlesungen und zahlreichen Vorträgen keinen Zweifel an den „scheußlichen Untaten“ des „Abenteurers“ Adolf Hitler. In einem vierbändigen Werk gab er eine kritische Gesamtdarstellung der Geschichte des preußisch-deutschen Militarismus.

Wie er arbeitete auch der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Hans Rothfels über „Die deutsche Opposition gegen Hitler“ (1949) und vermittelte ganzen studentischen Generationen ein umfassendes Bild der Zeitgeschichte seit dem Ersten Weltkrieg. Ludwig Dehio entwarf in seinem Werk „Gleichgewicht oder Hegemonie“ (1948) das große Panorama der europäischen Staatengeschichte in der Neuzeit. In Westdeutschland wurden die NS-Verbrechen ernsthaft und kritisch aufgearbeitet, ohne daß es dazu bestimmter ideologischer Antriebe und Vormünder bedurfte.

Ein Wendepunkt kündigte sich an, als in den Weihnachtstagen 1959 Unbekannte Hakenkreuze und Naziparolen an Synagogen in Köln, Frankfurt und anderen westdeutschen Orten schmierten. Die Kommunisten in Ost-Berlin und Moskau nahmen die Vorfälle sogleich zum Anlaß einer intensiven Kampagne gegen die Bundesrepublik, wo sich angeblich „nazifaschistische“ und „antisemitische“ Kräfte wieder zu Wort meldeten. Eilfertig griffen nun auch viele Medien in Westdeutschland die „antifaschistischen“ Parolen aus dem Osten auf. Das Hamburger Medienkartell um Spiegel, Stern und Zeit bis hin zum Westdeutschen Rundfunk und zur Süddeutschen Zeitung knüpften daran die Forderung, endlich mit der „Bewältigung“ der „braunen“ Vergangenheit Ernst zu machen.

Es war die Geburtsstunde jener penetranten Geschichtspolitik, die fortan die innenpolitische Debatte in der Bundesrepublik bestimmen sollte. Rasch ordneten die westdeutschen Kultusminister eine verstärkte Beschäftigung mit der NS-Geschichte im Unterricht der Schulen an. Es begann eine nicht immer sachgerechte öffentliche und pädagogische Debatte über die bisher angeblich unterbliebene Vergangenheitsbewältigung. Als einige Jahre später durch Überläufer bekannt wurde, daß die Vorfälle zu Weihnachten 1959 vom tschechoslowakischen Geheimdienst im Auftrag des sowjetischen KGB organisiert worden waren, war die inzwischen angelaufene Geschichtspolitik längst zum Selbstläufer geworden, und kaum jemand erinnerte noch an ihre Auslösung durch die sowjetkommunistische Agitation.

Der Vorgang lieferte das Paradigma aller nachfolgenden geschichtspolitischen Kampagnen in der Bundesrepublik, die als Schuldkult oft exzessiv betrieben werden und schon dadurch ihre Glaubwürdigkeit untergraben. Am Beginn stand Ende der fünfziger Jahre das Interesse der Sowjetunion, die Bundesrepublik als immer noch „faschistisch“ zu diskreditieren und dadurch nach innen und außen zu schwächen. Neben diese sowjetmarxistische trat auch eine westliche, vor allem amerikanische Variante der sich in den sechziger Jahren ausbreitenden Geschichtspolitik. Sie knüpfte an die Umerziehung der ersten Nachkriegszeit an und reifte zu ihrem zweiten kritischen Stadium heran.

Die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule trat ihren Höhenflug an, deren Strategen und Adepten mit ihrer sozialistischen und egalitären Leitideologie nicht weniger anstrebten als eine Um- oder Neugründung der Bundesrepublik. Entsprechende Meinungskartelle breiteten sich in der Medienlandschaft aus, „fortschrittliche“ Pädagogen und Theologen der Nachkriegsgeneration   bildeten bald ihren Massenanhang. „Vergangenheitsbewältigende“ Psychotherapeuten wie Alexander Mitscherlich mit seinem einflußreichen Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) erzeugten in der Studentenbewegung zeitweise einen wahren Schuldkult.

Historiker wie Fritz Fischer mit seinem Werk „Griff nach der Weltmacht“ (1961) über die Kriegsziele der deutschen Eliten im Ersten Weltkrieg öffneten vielen in der nachwachsenden Generation den Weg zu geschichtspolitischem Eifer ohne die für das historische Urteil nötige Allseitigkeit und Differenzierung. Einige führende Aktivisten der Studentenbewegung wie Gerd Koenen oder Götz Aly haben später eingeräumt, daß hier – kaum 20 Jahre nach dem Untergang des Nationalsozialismus, nur diesmal unter „antifaschistischen“ Vorzeichen – ein neuer totalitärer Staats- und Gesellschaftsmythos entstand mit seinem „Sieg der Gesinnung über die Urteilskraft, neuen Zentren politischer Heilsgewißheit, wirklichkeitsüberlegener Besserwisserei von penetrantem Moralismus und eifernder Intoleranz“ (Hermann Lübbe).

Treffend hatte Hans Rothfels das Wesen der Geschichtspolitik schon in seiner Auseinandersetzung mit dem Versailler Vertrag und seinem Artikel 231 über die deutsche Alleinschuld am Ersten Weltkrieg bloßgelegt. Rothfels erkannte den Vertrag als geschichtspolitisches Dokument par excellence, denn hier versuchten die alliierten Sieger von 1918, so Rothfels, „in pharisäischem Selbstbewußtsein“ Geschichte nach den moralischen und juristischen Kategorien von „Unschuld und Verbrechen“ zu bewerten. Doch die zentralen Kategorien geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis seien nun einmal nicht Schuld und Sühne, sondern „Ursache und Wirkung“. Moralische Urteile sollten nur als Ergebnis einer eingehenden Analyse des ganzen Netzwerkes der Akteure, ihrer Handlungen und Motive sowie der damit verbundenen Wechselwirkungen getroffen werden.

Ganz ähnlich haben sich 2008 französische Historiker in ihrem „Appell von Blois“ für die Freiheit der Geschichtsforschung und gegen „die retrospektive Moralisierung der Geschichte“ ausgesprochen und festgestellt, „daß es in einem freiheitlichen Staat keiner politischen Autorität zusteht, die historische Wahrheit zu definieren“. Diese Grenzziehung wird auch deutschen Politikern zur Beachtung empfohlen, wenn sie sich öffentlich etwa zur angeblichen deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 oder – ebenso leichtfertig – über 1945 als Datum der „Befreiung“ der Deutschen durch die Alliierten äußern.

Auch der sogenannte „Historikerstreit“ im Jahr 1986 war alles andere als ein Inhalts- oder Methodenstreit unter Historikern, wie sein Name suggerierte, sondern eine prinzipielle Konfrontation zwischen der modisch gewordenen Geschichtspolitik und angesehenen deutschen Historikern. Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas bezichtigte nicht nur Ernst Nolte, Andreas Hillgruber und Michael Stürmer, in ihren Werken mehr oder weniger „Apologie“ des Nationalsozialismus zu betreiben. Er vertrat mit vehementem Selbstbewußtsein auch seine ideologische Position des Universalismus, die subjektive Vision der mit historischer Notwendigkeit heranwachsenden universellen ökonomischen, kulturellen und politischen Einheit der Welt, die die bisherigen „partikularen“ nationalen, ethnischen und kulturellen Ordnungen hinter sich lassen werde.

Der Zeitgeist des Jahres 1986 sprach Habermas zwar den Siegeslorbeer im Historikerstreit zu. Doch schon drei Jahre später begann jener welthistorische Umbruch, der zunächst als Sieg des Westens im Kalten Krieg gedeutet wurde, der sich indessen aber immer deutlicher als der Beginn einer neuen weltgeschichtlichen Epoche im Zeichen des Wiederaufstiegs Asiens erweist und die geschichtspolitischen Spekulationen des deutschen Sozialphilosophen widerlegt beziehungsweise die Positionen der Historiker bestätigt.

Welchen Eindruck diese eigentümliche „deutsche“ Geschichtspolitik bei Ausländern mit historisch-politischer Bildung und moralischer Sensibilität hervorruft, zeigte die Rede, die der Präsident Estlands, Lennart Meri, zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1995 auf Einladung der Bundesregierung in Berlin hielt. Ihre zentralen Sätze lauteten: „Deutschland ist eine Art Canossa-Republik geworden, eine Republik der Reue. Aber wenn man die Moral zur Schau stellt, riskiert man, nicht ernst genommen zu werden. (...) Für mich als Este ist kaum nachzuvollziehen, warum die Deutschen ihre eigene Geschichte so tabuisieren, daß es enorm schwierig ist, über das Unrecht zu publizieren und zu diskutieren, das Deutschen angetan wurde, ohne schief angesehen zu werden – aber nicht von Esten und Finnen, sondern von Deutschen selbst.“

Es verwunderte nicht, daß Meris Berliner Rede vom deutschen Establishment kühl aufgenommen wurde, denn dieser kluge Freund der Deutschen legte die Finger in die geistigen Wunden des großen Volkes in Mitteleuropa, das 1945 die schwerste Katastrophe seiner Geschichte erlitten hatte: sein so häufiges politisches Unvermögen, von dem seine Geschichte immer wieder berichtet, und seine kompensatorische Neigung zur Flucht in hypermoralische Praxis und lautstarke moralische Betroffenheit. Dagegen postulierte Meri, daß gute und erfolgreiche Politik nur mit Selbstachtung betrieben werden kann, ohne Tabuisierung der eigenen Geschichte und Tradition.

 

Prof. Dr. Klaus   Hornung, Jahrgang 1927, lehrte bis 1992 Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Widerstand gegen den Parteienstaat („Gelenkte Demokratie“, JF 44/10).

Foto: Selbstgeißelung: Ursprünglich eine christliche Bußübung – heute gehört sie zum Standardinstrumentarium deutscher Erinnerungs- und Geschichtspolitik

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