© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/11 11. März 2011

Der Nicht-Raum
Internet schafft Öffentlichkeit: Solange Protest sich nur im Netz äußert, bleibt er wirkungslos
Martin Böcker

Es wimmelt. Bei Twitter, Facebook und in unermeßlich vielen Blogs wird in Schwärmen von Internetnutzern eine zweite Öffentlichkeit geschaffen. Bis das Internet sich als Massenmedium etabliert hatte, bestand die „Öffentlichkeit“ aus dem direkt erlebten Umfeld, also aus dem Bekanntenkreis, dem Zeitungsabonnement, dem Fernsehprogramm.

Heute ist das anders. Die „Öffentlichkeit“ wird durch die „online community“ erweitert. Für jede Meinung, jede Neigung, jeden Spleen findet der Internetnutzer eine mindestens ausreichende Zahl derer, die seine Auffassungen, seine Leidenschaften, vielleicht auch seine Wut über irgend etwas teilen. Die Blogs und Facebook-Gruppen der sich erhebenden Massen in Nordafrika und dem arabischen Raum geben ein Gefühl davon.

Zuletzt hat auch die Facebook-Gruppe „Wir wollen Guttenberg zurück“ dieses Gefühl vermittelt: Binnen weniger Tage stieg die Zahl ihrer Mitglieder auf über 500.000. Zum Vergleich: Kanzlerin Angela Merkels Profil verfolgen rund 74.000 Teilnehmer, bei Außenminister und FDP-Chef Guido Westerwelle sind es etwas mehr als 11.000. Der arabische Protest gegen die autokratischen Herrscher ist zwar ungleich intensiver und gefährlicher als die Fürsprache für den vergangene Woche zurückgetretenen  Verteidigungsminister, aber doch haben beide Protestformen etwas gemeinsam: Solange sie nur im Netz geschehen, bleiben sie wirkungslos.

Denn alles was im Internet geschrieben oder gezeigt wird, ist abstrakt, es sind auf Bildschirmen visualisierte Datenmengen. Das Geschehen wird erst dann zu solchem, wenn genügend Nutzer es zu verstehen meinen und in der körperlichen Welt darauf reagieren.

Die körperliche Welt, salopp formuliert: die echte, weist mindestens drei Dimensionen auf, Höhe, Breite, Tiefe. Das bedingt ein Verhältnis zwischen Strecke und Zeit, wenn der Akteur ein Ding bewegen oder einen Ort erreichen möchte. Mit diesen Dimensionen kann die Welt in Räume geteilt werden, alle hoch, breit, tief, die mit der Geschwindigkeit des modernen Verkehrs immer einfacher, günstiger und schneller überwunden werden – aber doch überwunden werden müssen. Das kostet Zeit. Im Netz ist die aufgebrachte Zeit für den Austausch von Informationen irrelevant, denn sie kann der Dauer des von Angesicht zu Angesicht gesprochenen Wortes das Wasser reichen. Damit ist auch die Strecke egal, die Entfernung zwischen zwei Kommunizierenden spielt keine Rolle mehr: Der Nutzer kann zeitgleich mit einer Peruanerin flirten, den Blog eines Eskimos lesen und sich an Debatten über Nordafrika beteiligen.

Somit ist die Wendung „im Internet“ problematisch. Suggeriert sie doch, daß auch das Internet „Raum“ wäre. Aufgrund der Irrelevanz des Verhältnisses zwischen Strecke und Zeit ist es jedoch genau das nicht: Das World Wide Web ist ein Nicht-Raum, wenn man so will. Trotzdem empfinden die Nutzer es als Raum: Wir gehen „ins Internet“, wir laden Daten „aus dem Netz“, wir nutzen es als Speicher-„Ort“. Dafür war früher noch ein leistungsstarker Rechner nötig, heute reicht ein Handy. Damit kann der Nicht-Raum, dieses riesige Internet, in der Hosentasche mitgeführt werden. So bewegt der Nutzer sich nicht nur im Kontext seiner direkt erlebbaren Umwelt, sondern stets auch „online“, das Netz wird Teil seiner Umwelt. Die permanente Anwesenheit des Nicht-Raums hat einen metaphysischen Touch, auch wenn er von Konkretem, fast Banalem abhängt: Strom- und Datenleitungen, Servern, Satelliten, der bezahlten Telefonrechnung.

Das Verhältnis von Konkretem und Allgegenwärtigem bezeichnet auch den Unterschied zwischen dem Mißerfolg der Pro-Guttenberg-Kampagne bei Facebook und dem Erfolg der nordafrikanischen Jugend. Diese konnte ihren im Internet allgegenwärtig vermittelten Protest konkret erlebbar in die echte Welt übertragen. Die Guttenberg-Enthusiasten waren im Nicht-Raum auch allgegenwärtig, konkret auf der Straße blieben sie aber faktisch wirkungslos.

Warum hatten die Nordafrikaner mit ihrer Internetkampagne Erfolg? Der Wille zum Aufstand und das Feindbild der Autokraten wurden nicht im Internet gebildet, beides wäre auch so entstanden. Durch die Allgegenwart des Nicht-Raums wußten sie aber jederzeit von den anderen Unzufriedenen. Keine Nachricht, kein Gerücht, ob wahr oder unwahr, blieb ihnen verborgen, bis sie sich endlich online mitteilen konnten, wo die nächste Demonstration stattfinden sollte. Ohne das Internet hätte der Protest in Nordafrika vielleicht später oder anders stattgefunden, aber er hätte stattgefunden.

Für die Guttenberg-Demos trifft das wahrscheinlich nicht zu. Und das, obwohl die 500.000 Mitglieder der Gruppe „Wir wollen Guttenberg zurück“ ebenfalls von den anderen Unzufriedenen wußten, obwohl auch vor ihnen niemand ein Gerücht oder eine Nachricht verbergen konnte. Doch ihr Feindbild war zu verschwommen, die wenigsten waren wirklich empört, geschweige denn wirklich schockiert. Denn wären sie es gewesen, hätten sie ihren Protest erlebbarer gemacht. Damit ist das Internet nur ein Brandbeschleuniger. Aber auch mit der Unterstützung von Benzin bleibt das Strohfeuer ein Strohfeuer.

Die Entwicklung des Internets als allgegenwärtiger Nicht-Raum, als Instrument der möglichen Verknüpfung aller mit allen, hat das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht. Mit besseren Geräten wird es noch präsenter und noch selbstverständlicher sein. Die 1990 Geborenen sind so alt wie das kommerziell genutzte Internet, die 2000 Geborenen nehmen das World Wide Web bereits heute als selbstverständlichen Teil ihrer Umwelt wahr. Das gilt nicht nur für Europa und die USA, das gilt für alle Gegenden, die Zugriff auf das Netz haben. Das verbindet die Erste Welt auch mit der Zweiten und Dritten – jedenfalls theoretisch. Denn Schrift, Sprache, Kultur und Interessen schaffen auch im Nicht-Raum Grenzen, die wimmelnde Nutzer-Schwärme von ganz allein ziehen.

Die Erfindung des Internets wird die Natur des Menschen wohl im selben Ausmaß verändern wie die Erfindung des Rads, der Dampfmaschine und des Automobils: nicht so sehr.

Foto: Facebook-Seite der Unterstützer Guttenbergs: Ihr Feindbild war zu verschwommen, die wenigsten waren wirklich schockiert

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