© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Schuldige und Minderbelastete
Die Entnazifizierung wurde erst 1946 halbwegs systematisiert / Vorherige Racheaktionen der Alliierten trafen unzählige Unschuldige
Ekkehard Zimmermann

Vor 65 Jahren trat ein Gesetz in Kraft, das als Versuch verstanden werden sollte, bis dahin oft unsystematisch und willkürlich verlaufenden Verhaftungen Hunderttausender Deutscher eine „rechtliche“ Form zu geben. Dieses Gesetz entstand auf Druck der US-Amerikaner, die eine Entnazifizierung in deutsche Hände legen wollten – sich dabei allerdings die letzte Entscheidung vorbehielten. Einen Meldebogen, einer Kurzfassung des Fragebogens von 1945, den jeder Deutsche über 18 Jahre auszufüllen hatte, sollte seine individuelle Verantwortung für den Nationalsozialismus entnommen werden. Die Gruppen der Verantwortlichen legte das Gesetz fest. I – Hauptschuldige, II – Belastete, III – Minderbelastete, IV – Mitläufer, V– Entlastete. Politische Säuberungsausschüsse wurden geschaffen; Spruchkammern entschieden, in welche Gruppe der oder die Betroffene kam. Entsprechend der Gruppenzugehörigkeit fielen die „Sühnemaßnahmen“ aus.

In wenigen Monaten sollte das Befreiungsgesetz jedoch zur Groteske geraten. Je länger die Prozedur der Abrechnung dauerte, um so stärker stieß sie auf Ablehnung und endete schließlich in einer „Tragikomödie der Irrungen“. Korruption, gekaufte Zeugen, sogenannte „Persilscheine“ brachten Entnazifizierung und Befreiungsgesetz in Mißkredit. Dennoch war das Gesetz ein Versuch, die Entnazifizierung wenigstens nach verbindlichen Regeln zu organisieren.

Als die Waffen nach dem 8. Mai 1945 schwiegen, wurden die Vereinbarungen von Casablanca wirksam. Was bedingungslos kapitulieren hieß, brachte der US-Gouverneur in Bayern, Charles E. Keegan, auf die knappe Formel: „Rechte? Sie kriegen keine Rechte. Sie sind ein erobertes Land, begreifen Sie das nicht?“ Die amerikanische Besatzungspolitik war auf die Direktive 1067 festgelegt. Sie bestimmte in ihrem Paragraph 4, daß Deutschland „nicht mit dem Ziel der Befreiung“ besetzt wird, sondern als eine „besiegte feindliche Nation. Ihr Ziel ist die Besetzung Deutschlands zur Erzielung gewisser alliierter Interessen.“

Zu diesen „gewissen Interessen“ gehörte die Entnazifizierung des deutschen Volkes. Zu Beginn wurden alle Menschen festgenommen, die auf mitgeführten Listen standen, die irgendwie verdächtig erschienen, den Absichten der Alliierten gefährlich werden zu können, oder die denunziert wurden. Die einen fielen unter den Automatischen Arrest, die anderen bildeten ein Sicherheitsrisiko (security threat). Eine dritte Gruppe bildeten die Kriegsverbrecher. Die Festgenommenen kamen in Gefängnisse, Ortsarreste, Spitäler, Fabriken, Hotels. Von dort aus ging es in Internierungslager.

Bekannt geworden ist das Zuchthaus in Schwäbisch Hall. Dort wurden Angehörige der Waffen-SS, die von den Amerikanern verdächtigt wurden, Kriegsverbrechen begangen zu haben, „vernommen“, das heißt gefoltert. Der Waffen-SS-Soldat Hans Siptrott erinnert sich: „Am 6. Dezember 1945 wurde ich vor ein Scheingericht gestellt, das mich zum Tode verurteilte. Dann wurde ich aufgehängt. In meiner Zelle kam ich später zu mir. Bis zum 9. Mai 1946 war ich Kriegsgefangener, ab 10. Mai Automatiker. Im ‘Kriegsverbrecherprozeß’ in Dachau wurde ich zum Tode verurteilt und kam nach Landsberg. 1948 wurde ich zu zwanzig Jahren begnadigt und 1954 entlassen. Noch heute (1984) leide ich unter einer durch die Strangulation verursachten Hirnschädigung.“

Ausgedacht hatten sich die automatische Sicherungsverwahrung Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer und Franz Neumann, deutsche Emigranten, die in den USA für den amerikanischen Geheimdienst OSS arbeiteten. Das US-Kriegsministerium gab am 22. Juli 1944 einen Leitfaden heraus, in dem die Auflösung der NSDAP, die Verhaftung ihrer Mitglieder und jener in den ihr angeschlossenen Organisationen, der Repräsentanten aus Wirtschaft, Landadel und Militär als nötig empfohlen wurde. Sollten die Gefängnisse überfüllt sein, so sei auf ehemalige KZ zurückzugreifen, hieß es. Dieser Leitfaden ist wortgetreu in den Entwürfen des Alliierten Oberkommandos für den Sicherheitsdienst (Eclipse) oder im Militärischen Handbuch wiederzufinden.

Die Amerikaner internierten flächendeckend und trieben ganze Dorfgemeinden auf die umliegenden Äcker; die Briten verfuhren ähnlich. Die Franzosen  vertrauten in den Anfangsmonaten die Führung „wilder“ Lager Fremdarbeitern an oder Kriminellen. Entsprechend fielen die Vernehmungen aus. Verstreute Meldungen, zumeist in Verbandszeitschriften ehemaliger Internierter, nennen Zahlen, denen aber ebenso zu mißtrauen ist wie den offiziellen Lagerbestandsquoten der Militärbehörden. Es gibt zu wenig verläßliche Informationen, die Aufschluß über die tatsächlichen Belegstärken der Lager oder die Zahl der Internierten geben könnten. Das US-Lizenzblatt Neue Zeitung aus München nennt am 21. Februar 1947 die Zahl von 1.860.138 Zivilisten, die nicht als Soldaten betrachtet „und ohne Entlassungspapiere“ aus den Kriegsgefangenenlagern „freigegeben“ wurden. Alfred Seidl, Heß-Verteidiger in Nürnberg und späterer bayerischer Innenminister, beziffert die Zahl der Internierten auf „etwa eine Million deutscher Staatsangehöriger, die aus politischen Gründen in Gefängnissen oder Lagern“ gefangengesetzt worden seien. 

Von Beginn an ist die Internierung ein Massenschicksal gewesen. Sie betraf, wie Kriegsgefangenschaft und das Erleben der Besetzung (die ihr ja vorausgingen) Hunderttausende. Rechtstaatliches Verhalten war dabei nicht die Regel. Im April 1958 gaben in einer Umfrage unter 628 ehemaligen Internierten 457 an, sie seien „schwer mißhandelt“ worden, 479 hätten hierdurch oder andere desolate Haftbedingungen bleibende gesundheitliche Schäden davongetragen. Die durchschnittliche Haftdauer habe dreißig Monate betragen. Kleine Beamte, Handwerker, Eisenbahner, Lehrer, Hausfrauen hätten das Gros gestellt. Wie viele sich während der Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich etwas zuschulden kommen ließen, bleibt bis heute ungewiß. Unbekannt geblieben ist auch die Zahl der Internierungslager. Sie ist in den drei westlichen Besatzungszonen auf etwa fünfzig zu schätzen, Hunderte von Vernehmungsstätten nicht mitgerechnet.

Als es zu Differenzen unter den Alliierten über die Frage kam, wer denn nun eigentlich alles interniert werden sollte, gerieten Internierung und Entnazifizierung außer Kontrolle. Überdehnung der Kategorien, wachsender Unmut auf seiten der Besiegten, die Arbeit der Spruchkammern ließen die ursprünglich guten Absichten ins Leere laufen. Vor allem aber war es der beginnende Kalte Krieg, der die Besiegten wieder salonfähig machte. Auf Weisung aus Washington wurde die Entnazifizierung 1948 eingestellt.

Foto: Berliner stehen 1946 vor US-Entnazifizierung-Behörde Schlange: Internierung war ein Massenschicksal

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