© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Der Fall Guttenberg
Das geblendete Bürgertum
von Konrad Adam

Mit seinem Rücktritt von allen politischen Ämtern hat Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg die Affäre, mit der er das Land, seine Partei und sich selbst so nachhaltig beschädigt hat, zunächst einmal zum Stehen gebracht; zu Ende ist sie deshalb aber längst noch nicht. Eine vorläufige Bilanz läßt sich aber heute schon ziehen.

Man weiß jetzt, daß man es in einem Land, das von seinen Repräsentanten als Wissensgesellschaft, als Bildungsrepublik, als Heimstatt von Forschung und Lehre und was weiß ich noch angepriesen wird, mit akademisch aufgeputztem Blödsinn weit, sehr weit bringen kann; sogar zum allerhöchsten Lob, zum „summa cum“. Keinem Erst- und keinem Zweitkorrektor, keiner Fakultät und keinem Präsidenten, keiner Kommission zur Verteidigung von wissenschaftlichen, ethischen und sonstigen Werten war aufgefallen, was – wenn man ihm glauben darf – dem Autor selbst entgangen war: daß er nichts Eigenes, sondern ein Sammelsurium aus fremden Einfällen, Behauptungen und Phrasen zu Papier gebracht hatte.

Niemand hat sich über die Stilbrüche gewundert, keiner die Quellennachweise überprüft oder sich an der schwülstigen Diktion gestoßen, die offenbar das einzige war, was der Freiherr aus eigenem Vermögen beigetragen hatte. Erst als ein Rezensent die Spur aufgenommen hatte und überaus fündig geworden war, wachten die zuständigen Instanzen auf. Aber auch dann noch taten sie sich schwer, sich gegen die Chuzpe zu verwahren, mit der die Hochschule durch eine Geste von verlogener Großmut dazu nötigt wurde, etwas zurückzunehmen, was sie nie hätten ausgeben dürfen.

Man hat sich oft gefragt, was die Exzellenzinitiative, auf die Annette Schavan so stolz ist, bewirken soll; wozu die Akkreditierungsbürokratie, die den Universitäten das Geld aus der Tasche zieht, eigentlich da ist; womit sich die Prüfungsämter, die Evaluationsagenturen und die Qualitätssicherungssysteme, die sich als akademische Aufsichtsbehörden überall breitgemacht haben, die Zeit vertreiben. Das läßt sich jetzt genauer sagen: herzlich wenig.

Die Kanzlerin selbst hat über den Wert und die Bedeutung dieser Hilfsindustrie das Nötigste gesagt, als sie ihren Verteidigungsminister mit den Worten herauszuhauen suchte, sie habe keinen wissenschaftlichen Assistenten eingestellt, sondern einen Politiker. Das ist natürlich richtig, wirft allerdings die Frage auf, von wem denn nun eigentlich mehr zu erwarten wäre, von einem schlichten Wissenschaftler oder einem übergeschnappten Minister. Zumindest von einem der beiden scheint die Chefin nicht allzuviel zu halten. Die demonstrative Geringschätzung der Wissenschaft, bisher ein Privileg der Regenbogenpresse, kann sich seither auf eine Stimme mehr berufen. Und was für eine.

Daß Annette Schavan, die zuständige Ministerin, im Bundestag zunächst stumm blieb und sich danach nur leise und verständnisvoll zu Wort meldete, wird man ihr nachsehen; sie ist in die Kabinettsdisziplin eingebunden und muß mit den Wölfen schweigen. Aber warum war von den Universitäten, vom Fakultätentag, von der Vereinigung der Staatsrechtslehrer und all den anderen illustren Gremien, die sich der akademischen und wissenschaftlichen Selbstdarstellung verschrieben haben, so wenig zu vernehmen? Hatten sie nichts zu sagen, nichts zu verteidigen, nichts zu verlieren?

Zum Beispiel den ungeteilten Respekt vor dem, was Max Weber „schlichte intellektuelle Redlichkeit“ genannt und als die erste von allen Voraussetzungen für den Beruf zur Wissenschaft beschrieben hat? Für dies Versäumnis werden sie noch lange zahlen müssen. Das Land, dessen wissenschaftliche und wirtschaftliche Zukunft sie garantieren wollen, selbstverständlich auch.

Während sich die organisierte Wissenschaft zurückhielt, trumpfte die Politik um so lauter auf. Zu den beschämendsten Episoden dieser an Peinlichkeiten heute schon überreichen Affäre gehört der Auftritt des früheren Ministers im hessischen Kelkheim, wo er eine Parteiversammlung dazu nutzte, mit ein paar launigen Worten seinen Verzicht auf etwas bekanntzugeben, was ihm nie zustand.

Freudig begrüßt vom örtlichen Parteipersonal, allen voran vom früheren Forschungs- und Wissenschaftspolitiker Heinz Riesenhuber, machte der Freiherr klar, daß ihm die wissenschaftlichen und die bürgerlichen Anstandsregeln ziemlich schnuppe sind, solange er die Partei, die eben nicht nur anderswo, sondern auch hierzulande immer recht hat, hinter sich weiß. Jeder einzelne der vielen lockeren Sprüche, mit denen der Minister seine Selbstentblößung betrieb, wurde von dem entfesselten Publikum mit Beifallsstürmen aufgenommen. Aufgeputscht von den bekannten Parolen, die Solidarität und Einigkeit und „Jetzt erst recht!“ verlangten, schloß sich das Bürgertum zum Mob zusammen.

Wenn eine Zeitung, die der Fäkalsprache immer neue Ausdrucksmöglichkeiten erschließt, ihren Liebling dazu auffordert, auf den Doktortitel zu „scheißen“, dann paßt das zu dem Stil des Blattes. Wenn die Linkspartei den Stasi-Spitzeln in ihrer Mitte mit dem Argument beispringt, so etwas könne doch passieren, sei weiter gar nicht schlimm und mit dem Dienst an der Partei durchaus vereinbar, dann paßt das auch.

Mit der grünen Marotte, Verstöße gegen Recht und Ordnung als wünschenswerten Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt zu betrachten, hat man sich mittlerweile abgefunden. Daß die SPD einen angesehenen Mann, der allerdings den Nachteil hatte, politisch auf der falschen Seite zu stehen, als den „Professor aus Heidelberg“ verhöhnte, kam bei der Unterschicht, um deren Stimmen sie warb, gut an. An der Verlegenheit der FDP, die sich durch das eigenwillige Verhalten eines Kabinettsmitglieds vor die Frage gestellt sah, ob denn auch Schummeln zu den Leistungen gehört, die sich nach Ansicht der Partei nun endlich wieder lohnen sollen, mochte man sich weiden. Im Falle des Barons hat sich das Schummeln gelohnt, und wie!

So einfach konnte es sich die Union jedoch nicht machen. Als ehemals wertgebundene Partei tat sie sich schwer, den Parolen von Bild und Bunte, von Focus, Stern und Spiegel zu folgen. Vollständig hat sie sich eben immer noch nicht in jene Maschine verwandelt, der es um Macht geht und sonst nichts. Seit sie von Helmut Kohl gelernt hat, daß die Parteiräson höher steht als alles andere – höher als die Gebote der Fairneß, die Verpflichtung zur Ehrlichkeit und die Vorschriften der Verfassung –, gelingen ihr die Ausflüchte ins Unverbindliche der Doppelmoral leichter als in der schlechten alten Zeit, in der sie ans christliche Menschenbild, an bleibende Werte und ungeschriebene Gesetze nicht bloß appellierte, sondern auch glaubte.

Ein Mann wie Uwe Barschel war erledigt, als sich das Ehrenwort, das er verpfändet hatte, als Lüge entpuppte; ein Mann wie Guttenberg glaubte so etwas mit einem Lächeln wegstecken zu können. Und die Parteigenossen bejubelten ihn als jene Wettertanne, die Petitessen wie eine getürkte Arbeit, ein erschlichener Titel und ein heuchlerisches Ehrenwort nicht umhaut. Unter dem Vorwand, einer Kampagne zu widerstehen, wollte die Partei selbst eine führen. Mehr als alles andere zeigte die innerparteiliche Reaktion auf den Fall Guttenberg, wie es um den Wertevorrat der Union tatsächlich steht.

Daß die Partei auf diesem Wege gut vorangekommen ist, läßt sich nicht leugnen; die Frage bleibt, wie weit der Weg noch führt. Denn nach dem Rückzug aus den Kirchen, der Absage an die Familie und dem Verzicht auf das Ideal des selbstverantwortlichen Bürgers ist das Vertrauen in den Wert von Bildung und Wissenschaft die letzte Bastion, hinter der sich die Reste der bürgerlichen Lebensform – wie rudimentär und schemenhaft auch immer – entfalten konnten. Wenn dieses Fort fällt, hat das Bürgertum ausgespielt. Das England Maggie Thatchers hat gezeigt, daß der Umsturz am besten dann gelingt, wenn er von Leuten betrieben wird, die ihre konservativen Wertvorstellungen als Ballast empfinden, den sie loswerden müssen, um fit zu sein für den Kampf ums Dasein.

Thatcher war eine von diesen konservativen Revolutionären, und sie hat England gründlicher verwandelt als jede Labour-geführte Regierung das hätte tun können. Sie hat bewiesen, daß sich mit Anpassungsbereitschaft und der Entschlossenheit, nichts gelten zu lassen als die ehernen Gesetze des Marktes, neue Wählerschichten erschließen lassen; alte verprellen aber auch.

Wie immer im politischen Geschäft bleibt die Bilanz am Ende offen. Einer Partei, die als bürgerfeindliche Bewegung auftritt und einen betont alternativen Lebensstil pflegt, fällt die Abkehr vom Tugendkatalog des Bürgertums allemal leichter als einer Partei, die sich ihrer bürgerlichen Herkunft schämt, da sie den Anschluß an den Zeitgeist verzögert. Oder zweifelt jemand, daß ein Roter oder Grüner weniger Mühe als Guttenberg gehabt hätte, der Bild-Zeitung zu folgen und auf den Doktorgrad zu „scheißen“?

Wann immer er über seine Zukunft sprach, erwähnte der Freiherr die Menschen, die dies und das von ihm erwarteten und verlangten: was immerzu genauso klang wie das, was die Partei von ihm erhoffte und Bild ihm zutraute. Menschen scheinen Guttenberg und seine Freunde nur dann wahrzunehmen, wenn sie es mit der Devise „Augen zu, CDU“ ernst meinen. Was die Menschen „draußen im Lande“ – wie sie im Berliner Politiker-Jargon heißen – von einem Mann wie ihm erwarten, ist aber etwas völlig anderes, viel einfacher und schlichter, nämlich dies: daß er sich an die Regeln hält, die für unsereinen verbindlich sind, im Zweifel auch von Gericht und Polizei durchgesetzt werden. Was sie dagegen ganz und gar nicht schätzen, ist die Alternative, die ihnen Guttenberg und die Partei jetzt zugemutet haben, nämlich diese: die Obrigkeit für dumm oder dreist oder dummdreist zu halten.

Denn darauf läuft es hinaus, wenn der Edelmann versichert, den Blödsinn, den er als Doktorarbeit ausgegeben hatte, selbst verfaßt zu haben. Um nicht der vorsätzlichen Täuschung überführt zu werden, zieht er es vor, als Trottel dazustehen, der beim Kompilieren die Übersicht verloren hat. Und auf so einen sollte ein Land, das seine Zukunft von der Originalität, von innovatorischen Leistungen und wissenschaftlicher Exzellenz erwartet, nicht verzichten können? Innovation durch Abschreiben? Das muß uns Anette Schavan erst noch erklären.

„Abschreiben, wie bisher“ wollen Bouvard und Pecuchét, die beiden Erztrottel aus Gustave Flauberts gleichnamiger Wissenschaftsparodie, nachdem sie den Kreis der Wissenschaften durchprobiert und überall nur Stümperei hervorgebracht, Unheil angerichtet und Unsinn verzapft haben. Sie hatten sich übernommen, sehen das ein und kehren reumütig an ihre Abschreibtische zurück. Kein Mensch wird etwas ähnliches von einem Mann wie Guttenberg erwarten. Zu was er fähig ist, hat er ja schon beim Amtsantritt bewiesen, als er gleich zwei Spitzenleute seines Hauses davonjagte, um aller Welt zu demonstrieren, wer ab sofort das Sagen hatte.

Was er tatsächlich kann und will, weiß er vermutlich selber nicht; ein Mann, dem alles Mögliche zuzutrauen ist, muß das auch nicht wissen. Den „echten“ Guttenberg, von dem Medien fabulieren und die Parteigenossen träumen, gibt es wahrscheinlich gar nicht; es gibt ihn ebensowenig wie den „echten“ Schauspieler, der seine Rolle nicht bloß spielt, sondern auch lebt.

Guttenberg ist das perfekte Kunstprodukt einer gut eingespielten Medienindustrie, gegelt, geschmeidig und gestylt – und absolut unzuverlässig. Schon deshalb ist sein Hinweis auf die mediale Betrachtungsweise, die sich auf seine Person verschoben und damit von der Sache, der Bundeswehr, den Soldaten und so weiter abgelenkt habe, zumindest eine halbe Lüge. Wer hat denn dafür gesorgt, daß die Presse immer und überall mit dabei war? Wer ist mit einem Journalistenpulk nach New York geflogen und mit Kerner im Gepäck nach Afghanistan aufgebrochen? Wer hat die Umfragen in Auftrag gegeben, gesteuert und ausgewertet, die ihn als den großen Hoffnungsträger der Union feierten?

 Anders als seine älteren Kollegen betrieb Guttenberg Politik nicht nur ab und an, sondern grundsätzlich und mit letzter Konsequenz als Talk-Show. Keine PR-Agentur, schrieb der Spiegel, hätte sich eine Figur wie ihn ausdenken können, ohne sich lächerlich zu machen. Das, immerhin, hat Guttenberg nun selbst besorgt. Er war der erste Minister, den man ungestraft Gauner und Hochstapler nennen durfte. Wohin mag es so einer wohl noch bringen?

 

Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Journalist und Buchautor, war von 1979 bis 2000 Feuilletonredakteur der FAZ, danach bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Sprachkritik („Schuld, Scham und Schande“, JF 8/10).

Foto: Manschettenknöpfe mit Guttenbergs Familienwappen: Das Bürgertum ließ sich offenbar von dem charismatischen Baron vorführen

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