© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Auge um Auge, Zahn um Zahn
Wenn Menschen rotsehen: Selbstjustiz als Teil einer endlosen Gewaltspirale
Harald Harzheim

Vor dreißig Jahren, am 6. März 1981, erschoß Marianne Bachmeier in einem Lübecker Gerichtssaal mit dem 35jährigen Fleischer Klaus Grabowski den vorbestraften Sexualstraftäter und mutmaßlichen Mörder ihrer siebenjährigen Tochter Anna. Diese Tat, mit sechsjähriger Haft wegen Totschlags bestraft, sorgte in der Öffentlichkeit für Spaltung: Während die einen Verständnis zeigten, Bachmeiers Selbstjustiz gar heimlich guthießen, lehnten andere sie aus rechtsstaatlichen Gründen ab. Bachmeiers Marktwert stieg: Der Stern druckte eine Exklusivserie. Darauf basierend, drehte Burkhard Driest den Film „Annas Mutter“ (mit Gudrun Landgrebe), parallel zu Hark Bohms „Der Fall Bachmeier – Keine Zeit für Tränen“ (mit Marie Colbin). Ein Produzent bot Frau Bachmeier sogar an, persönlich die Hauptrolle in der Film-Bio zu übernehmen.

Warum das Phänomen „Selbstjustiz“ die Gemüter erregt? Weil die Forderung eines Rechtsstaates, den eigenen (Rache-) Affekt nicht als letzte Instanz anzuerkennen, sondern die Regelung erlittenen Unrechts einer distanziert-diskursiven Justiz anzuvertrauen, zahlreiche Menschen überfordert: sie verlangt ihnen zuviel Triebverzicht ab. Der Ruf nach brutaler Strafe gründet in überlasteter Ratio. Auch der Lynchmob verdrängt quälende Herzens-Ambivalenz – gleichzeitig Wut und Verständnis für den Täter zu empfinden – durch einseitigen Furor.

Dieser Konflikt besteht seit der Existenz von Rechtsstaat, Gewaltmonopol und Exekutive, deren Beginn man ins Römische Reich datiert. Zuvor, in der griechischen Antike, unterlag es den Opfern, einen Prozeß anzustrengen und den Täter herbeizuschaffen, wodurch die Grenze zur Selbstjustiz fließend blieb. Erst der römische Staat schuf ein Gewaltmonopol, das kriminalistische „Selbsthilfe“ einschränkte. Dennoch, so zeigt Apuleius Roman „Der goldene Esel“ (2. Jahrhundert n. Chr.), gingen zahlreiche Bürgerwehren gegen Räuber vor. Und zwar derart eifrig und brutal, daß Bischof Basilius Selbstjustizler mit Exkommunizierung bestrafen wollte.

In der Neuzeit wurde Selbstjustiz erst mit der Entdeckung Amerikas wieder ein breites Thema. Schließlich gerieten Siedler dort in einen rechtsfreien Raum, wo jeder auf den eigenen Colt angewiesen blieb. Selbstjustiz im funktionierenden Rechtsstaat hat eine andere Bedeutung als im rechtsfreien oder dünn besiedelten Land, wo der Sheriff hunderte Meilen entfernt wohnt. So nimmt es nicht wunder, daß Selbst- oder kollektive Lynchjustiz primär zu einem US-Kulturthema wurde, von Ausnahmen wie Kleists „Michael Kohlhaas“ oder Dumas „Graf von Monte Christo“ einmal abgesehen.

Dennoch war es ein deutscher Emigrant, Fritz Lang, der mit „Fury“ (Blinde Wut, 1936) einen Klassiker zum Thema Lynchjustiz vorlegte: Joe Wilson (Spencer Tracy) soll ein Kind entführt haben. Den Einwohnern der Kleinstadt ist die Justiz zu zögerlich, sie ziehen zum Gefängnis und zünden es an. Natürlich herrscht Volksfeststimmung. Ein Mann aus dem Lynchmob, der freudig seine Peitsche auf den Boden knallt, zeigt deutlich dabei empfundene Vernichtungslust: Der Mensch – so erkannte Marquis de Sade – ist für jeden Vorwand dankbar, ungestraft die Bestie rauszulassen. Bald aber sitzen die Selbstjustizler selbst vor Gericht. Anklage: Mord an Joe Wilson, Galgen droht. Angeblicher Mord verursacht Lynchjustiz, die ihrerseits Todesstrafe nach sich zieht: eine endlose Gewaltspirale.

Im gleichen Jahr inszenierte Michael Curtiz „The Walking Dead“ (Die Rache des Toten, 1936): Der Musiker John Elman (Boris Karloff), unschuldig auf dem elektrischen Stuhl gestorben, von einem Frankenstein-Wissenschaftler ins Leben zurückgerufen, tötet der Reihe nach all jene, die ihn zu Unrecht beschuldigten. Hier entsteht Selbstjustiz nicht aus angeblicher Milde des Rechtsstaates, sondern ein Opfer „legaler“ Grausamkeit (Todesstrafe) schreit nach Blutrache.

Im deutschen Film ist Selbstjustiz selten ein Thema. Ausnahmen bilden Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einem Mörder“ (1931), in dem Verbrecherbanden einen zwanghaften Triebtäter (Peter Lorre) lynchen wollen, und Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ (1946), darin Kriegsheimkehrer Hans Mertens (Ernst W. Borchert) seinen ehemaligen Hauptmann für die Anordnung eines Geiselmassakers liquidieren will. In letzter Sekunde überredet ihn seine Freundin (Hildegard Knef), auf Selbstjustiz zu verzichten, den Hauptmann statt dessen vor Gericht zu bringen.

Mit Hans Mertens tritt die Figur des „einsamen Rächers“ auf den Plan, der im US-Film populäre Ikonisierung fand. Zu den Prototypen selbstgerechter Einzelkämpfer zählt Travis Bickle (Robert De Niro) in „Taxi Driver“ (1974). Durch den Vietnamkrieg zum Psycho-Wrack geworden, unter Schlaflosigkeit leidend, erfährt Bickle als Taxifahrer das Nachtleben, die dunkle Seite von New York: ein Sumpf aus Kriminalität und Prostitution. Als er die minderjährige Stricherin Iris (Jodie Foster) trifft, beschließt er, sie zu befreien. Minutiös bereitet Bickle sich auf das große Massaker vor, bei dem Iris Zuhälter (Harvey Keitel), Türsteher und Freier ihr Leben lassen. Für den „Taxifahrer“ ist dieser Akt der Selbstjustiz eine Erlösung: Das zerstörte Selbstwertgefühl, die Fragen, warum Iris von zu Hause ausriß, wieso der Zuhälter sie mit falscher Liebesbekundung bei der Stange halten konnte – alle quälenden Ungereimtheiten lösen sich auf in einer gigantischen Blutorgie.

Diese Erlösungsfunktion des Blutes betont der ehemalige Priesteranwärter Martin Scorsese auch in dem späteren „The last temptation of Christ“ (Die letzte Versuchung Christi, 1988), seine Filme bestätigen alte Theorien, wonach Todesstrafe und Selbstjustiz im archaischen Menschenopfer wurzeln. Das führt in eine Zeit zurück, als individuelle Schuld noch gar nicht Thema war, wo ein Delikt oder Katastrophen durch das Blut eines Geopferten „Sühnung“ fanden, die Kollektivseele „beruhigte“.

Im gleichen Jahr wie „Taxi Driver“ stürmte ein weiterer Klassiker der Selbstjustiz ins Kino, „Death Wish“ (Ein Mann sieht rot, 1974): Eine Jugendgang vergewaltigt Frau und Tochter eines New Yorker Architekten (Charles Bronson). Die Frau stirbt an den Folgen und die Tochter bleibt traumatisiert. Wie Travis Bickle beschließt der Architekt, die Stadt zu „säubern“. Unter dem Applaus der Regie (Michael Winner) mäht er Drogensüchtige, Erpresser und weitere Kriminelle nieder. Die Polizei faßt ihn, aber als klar wird, daß sein Handeln die Kriminalitätsrate gesenkt hat (!), wird er begnadigt. Dieser höchst eindimensionale Film provozierte fünf „Fortsetzungen“, während man hierzulande den Verleihtitel („Ein Mann sieht rot“) für weitere Selbstjustiz-Filme paraphrasierte: „Lipstick“ (Eine Frau sieht rot, 1975) und „Hardcore“ (Ein Vater sieht rot, 1978).

Nach soviel cineastischem Rotsehen trat Skandalregisseur Gaspar Noé mit „Irreversible“ (1999) auf die Notbremse, steigerte das Thema zur makaberen Pointe: In der Eröffnungsszene schlägt Selbstjustizler Marcus (Vincent Kassel), Freund eines Vergewaltigungsopfers (Monica Belucci), das Gesicht des Täters mit einem Feuerlöscher zu Brei. Endlose, quälende Minuten lang. Im weiteren (antichronologischen) Verlauf des Films zeigt sich, daß der Traktierte gar nicht der Täter war. Der stand, so erkennt man bei wiederholter Betrachtung, höhnisch grinsend daneben ... Ein (Selbst-)Justizirrtum als filmische Schocktherapie, die eine Rückkehr zur Ratio nahelegt.

Foto: Charles Bronson in dem Film „Ein Mann sieht rot“ (USA 1974): Die Stadt von Drogensüchtigen und Kriminellen gesäubert

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