© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

„… aus aller Ordnung fallend“
Gegen-Klassiker, Atheist, preußischer Partisan: Heinrich von Kleist
Michael Vetter

Eine Milliarde Chinesen kommen ohne Kleist aus. Zu Maos Zeiten waren zwar die „Herrmannsschlacht“ und „Michael Kohlhaas“ übersetzt worden, mit streng marxistischen Vorworten versehen, eingetütet unter den Losungen Volksbefreiungskrieg und Kampf gegen Ausbeutung. Aber nach dem Ende der „Kulturrevolution“ (1976) erlosch auch dieses bescheidene Interesse. Mit einer 1985 in Shanghai offenbar nur für Germanisten veröffentlichten Werkauswahl endete Kleists kurze Rezeptionsgeschichte im Reich der Mitte.

Der bislang kundigste Führer zu Leben, Werk und Wirkung des preußischen Ikarus, Ingo Breuers „Kleist-Handbuch“ (2009), unterrichtet natürlich auch über solche scheinbaren Abseitigkeiten wie die chinesische Kleist-Abstinenz. Verdeutlicht dies Detail doch, wie fragil der Klassiker-Status selbst dann noch sein kann, wenn es sich um einen „Gegen-Klassiker“ wie Heinrich von Kleist (1777–1811) handelt. Dichterruhm ist offenkundig eine relative Größe, gebunden an Zeit und Raum, beschränkt auf einen Kulturkreis, auf wenige Lesergenerationen. Bei Kleist auf das „Abendland“, letztlich nur auf Preußen und Deutschland. Und auf diesem Terrain wiederum begrenzt auf eine kurze Zeitspanne.

Einsetzend Ende des 19. Jahrhunderts, mündend in die erste Kleist-Konjunktur zum hundertsten Todesjahr 1911, und erst seitdem beständig blühend. Im soeben ausgerufenen Kleist-Jahr 2011 traut sich bereits kein Literaturwissenschaftler mehr zu, den vornehmlich deutsch- und englischsprachigen Ausstoß der Forschung nach 1945 zu überblicken. Kein Wunder, daß eine Kleist-Bibliographie fehlt.

Als der Sproß eines berühmten preußischen Soldatengeschlechts, Leutnant a. D. und Schuldenmajor, mäßig erfolgreicher Schriftsteller und Journalist, am 21. November 1811 zuerst Henriette Vogel, einer unheilbar krebskranken Freundin, ins Herz und sich selbst dann mit letalem Erfolg in den Mund geschossen hatte, geizte die Nachwelt lange mit dem Lorbeer. Kein Hahn krähte nach dem Dichter Kleist. Es herrschten über Dezennien sozusagen chinesische Verhältnisse, denn die deutschen Leser und Theaterbesucher entbehrten seiner nicht.

Das änderte sich mit dem Wandel der Mentalitäten, Wahrnehmungen und Sinnbedürfnisse im Industriezeitalter. Bald galt Kleist als ein Vorläufer der Moderne, dessen Werk deren „transzendentale Obdachlosigkeit“ antizipierte. Das Personal seiner Dramen und Erzählungen fängt keine durch Religion oder Philosophie, durch staatliche oder gesellschaftliche Institutionen gestiftete Ordnung mehr auf. Bei ihm geht es im wörtlichsten Sinne „heillos“ zu. Daß die Geschichte einen Sinn haben, sich im unaufhaltsamen Fortschritt auf stabile, womöglich „freiheitlich-demokratische“ Menschheitsziele zubewegen könnte, wäre ihm lächerlich vorgekommen. Als „Vordemokrat“, zu schweigen vom furor teutonicus seiner politischen Pamphletistik gegen Napoleon und die „Franzosenbrut“ („Dämmt den Rhein mit ihren Leichen“), müßte sein Name heute eigentlich auf „antifaschistischen“ Säuberungslisten stehen, um übermorgen aus dem öffentlichen „Gedenkraum“ zu verschwinden.

Keine Interpretation seines Werkes kommt ohne den Hinweis auf die „Zerrissenheit“ des Autors aus, auf das Krisenhafte und Katastrophische seiner alles andere als harmoniesüchtigen Weltsicht, auf seinen Nihilismus und Atheismus. Eingebürgert hat sich Thomas Manns Wendung, Kleist sei „aus aller Hergebrachtheit und Ordnung fallend“. Zum Deutungsstandard gehören ausufernde Erörterungen seiner kantisch inspirierten Erkenntniszweifel und seiner Sprachskepsis. Wirklichkeit ist für Kleist unserer Vernunft und Sprache nur unzureichend zugänglich. Regelmäßig werden hier Parallelen zu Franz Kafka, als dem repräsentativen Autor der Moderne, gezogen, der nicht von ungefähr ein eifriger Kleist-Leser war.

Vor allem die Biographen der jüngeren Zeit, Rudolf Loch (2003), Gerhard Schulz und Jens Bisky (beide 2007) sowie jetzt der Kölner Germanist Günter Blamberg und der Journalist Peter Michalzek zeigen sich gewöhnlich „irritiert“, wenn sie die unübersichtlich-desorientierenden Katastrophenszenarien seiner Dichtungen mit der „Eindeutigkeit“ seiner politischen Parteinahme konstatieren müssen. Gibt es bei Kleist doch einen letzten Ordnungsentwurf, eine Sinnstiftung durch Volk und Nation?

Die Frage steht im Raum, bleibt aber unbeantwortet. Als „Fackel Preußens“ (Joachim Maaß, 1957) will man den Verfasser der Ode „Germania an ihre Kinder“, des „Katechismus der Deutschen“ oder des Dramas „Herrmannsschlacht“, die Carl Schmitt als „die größte Partisanendichtung aller Zeiten“ rühmte, nicht gerne sehen. Auch die durch Wolf Kittlers bahnbrechende Forschungen (1987) entdeckte enge Nachbarschaft zu Carl von Clausewitz, überhaupt zum „preußischen Diskurs“ kurz „Vor dem Sturm“ (Fontane) der Befreiungskriege, verbreitet unter Kleist-Exegeten eher Unbehagen. Unter „Agitationslyrik“ hakt denn auch der für die linksliberale Frankfurter Rundschau tätige Michalzek diesen Komplex nur kurz in seiner Biographie ab, die ansonsten mit breitem Pinsel malt und Redundanzen nicht scheut.

Ähnlich wie Blamberg, der langjährige Präsident der Kleist-Gesellschaft, der von diesen „Schlachtgesängen“ eilig den Bogen schlägt zu ihrer Funktionalisierung in den „nationalen Aufschwüngen von der Reichsgründung bis zur Nazizeit“, zu Kleist Vereinnahmung in die „stählerne Romantik“ des Dritten Reiches. Dabei vergessend, daß der Herausgeber der politischen Schriften Kleists, 1935 im jugendbewegten Potsdamer Protte-Verlag erschienen, Adam von Trott zu Solz hieß, der seine Teilnahme am versuchten „Tyrannenmord“ 1944 mit dem Leben bezahlte.

Weitere für 2011 angekündigte Biographien und Studien sowie das mediale Begleitprogramm des unter bundespräsidialer Schirmherrschaft stehenden Kleist-Jahres dürften, dem Beispiel von Michalzek und Blamberg folgend, um den preußischen Patrioten, dem auf Erden nicht zu helfen war, lieber einen großen Bogen machen.

 

Kleist-Jahr 2011

Das am heutigen Freitag mit einem Festakt in Frankfurt/Oder, der Geburtsstadt Heinrich von Kleists, offiziell eingeläutete Kleist-Jahr 2011 unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten startet mit einer Handschriften-Ausstellung im Kleist-Museum in Frankfurt/Oder (bis zum 29. April). Am 18./19. Mai geht im Berliner Collegium Hungaricum eine internationale Tagung „Adel und Autorschaft“ der Frage nach, welche Bedeutung die aristokratische Herkunft für Autoren der Klassik und Romantik hatte. Die kulturhistorische Doppelausstellung „Kleist: Krise und Experiment“ nähert sich der Biographie und dem Werk Kleists und will dessen Nähe zu heutigen Lebenswelten vermitteln. (Eröffnung: 20. Mai im Berliner Ephraim-Palais, zwei Tage später im Kleist-Museum in Frankfurt/Oder, jeweils bis zum 29. Januar 2012). Das Maxim Gorki Theater in Berlin bringt im November das gesamte dramatische Werk Heinrich von Kleists auf die Bühne. Die Vergabe des diesjährigen Kleist-Preises findet am 20. November, dem Vorabend seines Todestages, im Berliner Ensemble statt. www.kleist2011.de  www.heinrich-von-kleist.org

Günter Blamberg: Heinrich von Kleist. Biographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011, gebunden, 597 Seiten, Abbildungen,
24,95 Euro

Peter Michalzik: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Biographie. Pro-pylän Verlag, Berlin 2011, gebunden, 557 Seiten, Abbildungen,
24,95 Euro

Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben–Werk–Wirkungen. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart/Weimar 2009, gebunden, 495 Seiten, Abbildungen, 49,95 Euro

Foto: Kopie eines Ölporträts Heinrich von Kleists im Kleist-Museum in Frankfurt/Oder: Nihilismus, Atheismus

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