© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Pankraz,
Gilles Dauvé und die Diktatur im Verfall

Ach, die geliebten sechziger Jahre! Damals sagte ich gern zynisch: Das ideale politische Regime ist eine Diktatur im Verfall. Der Unterdrückungsapparat funktioniert dann immer mangelhafter, doch er ist noch da und stark genug, um den kritischen und spöttischen Geist zu stimulieren.“

Von wem stammen diese Sätze? Von keinem Geringeren als von Milan Kundera, dem exzellenten, politisch über alle demokratischen Zweifel erhabenen Dichter und Essayisten, der zwar schon seit langer Zeit in Paris lebt und nur noch französisch schreibt, in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aber einer der bekanntesten Jungautoren der ehemaligen Tschechoslowakei war und zu den führenden Protagonisten des sogenannten „Prager Frühlings“ zählte, jenes legendären Präludiums zum Zusammenbruch des Ostblocks.

Damals begann der Verfall der kommunistischen Diktatur in der CSSR, und Kundera gehörte zu denen, deren Werk sich im gleichen Takt zu schönster Blüte entfaltete – bevor dann der sowjetische Einmarsch im August 1968 kam und alle Frühlingsblumen zu Eis erstarren ließ. Bis dahin jedoch hatte es (in wenigen Monaten und für nur wenige Monate) einen eruptiven, beispiellosen Aufbruch des Kulturlebens im Lande gegeben, und das hing tatsächlich mit dem langwierigen Kollaps der Diktatur zusammen.

Kundera hat es selbst beschrieben: „Heiter verweigerte das Land plötzlich den von Rußland aufgezwungenen Lebensstil; die Staatsgrenzen öffneten sich, und alle gesellschaftlichen Organisationen (Gewerkschaften, Verbände, Vereine), ursprünglich dazu bestimmt, den Willen der Partei an das Volk weiterzuleiten, wurden unabhängig und verwandelten sich in unerwartete Instrumente einer unerwarteten Demokratie.“

Und weiter: „Ein System entstand (ohne vorheriges Programm, beinahe durch Zufall), das wirklich noch nie dagewesen war: eine zu hundert Prozent verstaatlichte Wirtschaft, eine durchweg in Kolchosen organisierte Landwirtschaft, doch auch das Ende der Macht der Geheimpolizei, das Ende der politischen Verfolgung, die Freiheit, ohne Zensur zu schreiben. (…) Wir wußten nicht, welche Perspektiven dieses System hatte; in der damaligen geopolitischen Situation sicherlich gar keine; aber in einer anderen? Wer weiß. Auf alle Fälle war diese Sekunde, in der dieses System existierte, diese eine Sekunde – sie war einfach großartig.“

Ähnlich wie der junge Kundera denken heute angesichts des Zusammenbruchs der Autokratien in Nordafrika wohl viele junge arabische Schriftsteller, Filmemacher, Jobsucher, Plakate-Hochhalter, Sich-zu-Wort-Melder. Die „Diktatur im Verfall“ erscheint ihnen als das pure Paradies auf Erden. Nichts ist mehr so, wie es eben noch war, aber es gibt auch keine festgezurrten Zukunftsbilder, keine klaren Alternativen, alles scheint möglich, die Zeit steht buchstäblich still, und man selber ist plötzlich unendlich frei und darf sich auch außerordentlich schicksalskräftig fühlen.

Gerade empfindliche, echt schöpferische Geister empfinden die Einmaligkeit und fragile Unwiederbringlichkeit der Situation. Sie sind wie Kinder am Strand, die aus reinem Sand phantastische Idealburgen aufbauen. Die Welt der Erwachsenen, sprich: der festen Formen und sogenannten Notwendigkeiten, ist weit weg. Für sie existiert nur unmittelbarste Gegenwart, gelebter Augenblick, eben „Situation“. „Die arabische Revolution ist der fleischgewordene Situationismus“, notierte vor einigen Tagen denn auch sarkastisch der alte „Anti-Situationist“ Gilles Dauvé in Paris.

„Situationisten“ – so nannten sich in den sechziger Jahren einige Stichwortgeber in Frankreich, Italien, auch Deutschland (Guy Debord war ihr Prophet), welche nicht mit dem ideologischen Dogmatismus und aufgedonnerten Utopismus der üblichen 68er einverstanden waren. Es komme nicht darauf an, argumentierten Debord & Co., ein bestimmtes, angeblich perfektes politisches System zu schaffen, sondern Ziel müsse sein, die politische Landschaft gewissermaßen flüssig zu halten, nämlich sie mit künstlerischer Raffinesse aus einer „perfekten Situation“ in die andere zu überführen, so daß das Leben wirklich Spaß machen könne.

Was die Situationisten freilich als „situative Politik“ ins Feld führten, war genauso wirr und wirklichkeitsfremd wie die Parolen der „richtigen“ 68er. Es war, für jeden Zuhörer oder Leser sofort erkennbar, nichts als haltlose Spinnerei. Auch war man gelegentlichen Gewaltexzessen durchaus nicht abgeneigt, verbrämte sie allerdings geschickt durch manchmal höchst eindrucksvolle Wortkaskaden zur Feier des Augenblicks in Kunst und Politik.

Die Vorgänge in Arabien als „situationistisch“ zu feiern, bringt genausowenig ein, wie sie à la Dauvé mit sarkastischem Spott zu überziehen, Natürlich gibt es dort Momente höchsten kollektiven Glücks, so wenn etwa der Rücktritt eines Mubarak bekanntgegeben wird und sich wildfremde Menschen jubelnd in die Arme fallen und alle nur noch einen einzigen Wunsch haben: „Verweile doch, du bist so schön!“ Aber dauerhaft gute Politik läßt sich aus einem solchen Moment nicht formen, geschweige denn eine Demokratie, die diesen Namen wirklich verdient.

 Mag sein, der von Kundera markierte „kritische und spöttische Geist“ wird ordentlich in Fahrt gebracht, doch zu einer Demokratie gehört sehr viel mehr als bloße Kritik und bloßer Spott. Deshalb sagt der sich erinnernde Kundera ja auch, er habe seine jugendliche Rede von der „Diktatur im Verfall“ als dem idealem politischen System zynisch gemeint.

 In der Tat, wenn man einem mürben System nur noch in den Hintern zu treten braucht, um es zum Verschwinden zu bringen, braucht man sich nicht das geringste darauf einzubilden. Man vollbringt keine Heldentat. So etwas ist gewiß nichts für passable junge Leute, allenfalls etwas für zynische Wichtigtuer. Wahre Heldentaten sind, um mit Bert Brecht zu sprechen, immer „Mühen der Ebene“. Sie fangen an, wenn der Augenblicksjubel aufhört.

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