© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Die neue Macht der Stämme
Libyen: Mit dem Zusammenbruch des Gaddafi­ -Systems erleben die traditionellen Stammesgesellschaften eine Renaissance
Günther Deschner

Erst Tunesien, dann Ägypten, und nun Libyen: eine Kettenreaktion wankender und einstürzender Regimes von geostrategischem Ausmaß verändert die politische Tektonik Nord-afrikas. Der Orientkenner Uri Avnery, das vielleicht gescheiteste Enfant terrible der israelischen Politik, fühlt sich sogar an eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht erinnert: „Der Geist entweicht der Flasche, und es hat den Anschein, als könne ihn keine Macht der Erde wieder zurückbringen.“

Als zuerst Tunesien erschüttert wurde, sprachen Beobachter noch von einem Einzelfall: ein relativ unbedeutendes arabisches Land und schon immer etwas fortschrittlicher als die anderen. Doch kurz darauf Ägypten; das hatte bereits eine andere Qualität.

Die Perspektivlosigkeit der Jugend, Korruption und politische Repression – Hauptursachen der Proteste in Tunesien und Ägypten – spielen auch in Libyen eine Rolle. Doch so sehr die Länder in ihren Problemen vergleichbar sein mögen, gleicht Libyen nur auf den ersten Blick seinen Nachbarländern. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind in vieler Hinsicht anders: Libyens Identität – das war in den vier Jahrzehnten seiner Herrschaft vor allem der Revolutionsführer Muammar al Gaddafi. Doch in der Realität wird das Land geprägt von Petro-Dollars und Stammesgesellschaften.

Zwar nur an 17. Stelle in der Rangfolge der größten Ölproduzenten der Welt, machen Libyens Ölerlöse doch 95 Prozent des Staatshaushalts aus – und sie machen den Wüstenstaat zum reichsten Land Nordafrikas. Die Petro-Dollars bilden das zentrale Element der libyschen Wirtschaft – und sie waren ein zentrales Herrschaftselement: Vier Jahrzehnte lang hingen die innere Stabilität Libyens und die Legitimation der Herrschaft Muammar al Gaddafis entscheidend von der ausgeklügelten Verteilung der Öleinnahmen ab. Der Libyen-Expertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Isabell Werenfels, zufolge, benutzte Gaddafi die Öleinnahmen, um die Stämme Libyens nach Gutdünken regelrecht zu kaufen. Denn „die Stämme sind in Libyen traditionell gesellschaftlich und politisch einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Faktor gewesen“.

In Gaddafis Libyen haben sich viel stärker als in den Nachbarländern traditionelle Strukturen erhalten – und sie spielen in Krisenzeiten eine noch größere Rolle: Da Gaddafi weder Opposition noch unabhängige Parteien zugelassen hatte, bot die Zugehörigkeit zu Stamm und Clan vielen den Orientierungspunkt, an dem sich Loyalität festmacht.

In Libyen gibt es rund ein Dutzend größere Stämme, aufgeteilt in eine schwer überschaubare Zahl von Unterstämmen. Sie unterscheiden sich sprachlich und in ihren kulturellen und sozialen Traditionen. Sie identifizierten sich mit ihrer Region, nicht mit dem Zentralstaat. Gaddafi trug zu dieser Spaltung auch noch bei: Während er den Westen, wo sein Stamm herkommt, großzügig förderte, wurden der Osten und der Süden vernachlässigt. Immer wieder waren Bengasi und andere Regionen im Osten und Süden Ziel brutaler Repressionen durch das Regime.

Gaddafi selbst gehört einem kleineren, nach libyschen Maßstäben eher unwichtigeren Stamm an, den Gaddafa, den er während seiner mehr als vier Jahrzehnte an der Macht massiv bevorzugt hat. Gaddafi war zwar 1969 als „Modernisierer“ angetreten, aber je heftiger im Lauf der Zeit die Grabenkämpfe unter den Revolutionären von damals wurden, desto bedeutsamer wurde auch bei ihm wieder die alten Stammesbande. Es fiel auf, daß er wichtige Positionen mit Angehörigen seines Clans und seines eigenen Stammes besetzte.

 Um zu bestehen, hatten die Gaddafa schon früher Verbündete gebraucht, und auch Gaddafi mußte Allianzen mit größeren Stämmen eingehen: Er verteilte Posten im Staats- und Sicherheitsapparat an sie. Dann spielte er die Stämme gegeneinander aus – offenbar nicht besonders geschickt: 1993 verhinderten die libyschen Sicherheitskräfte einen Umsturzversuch von Offizieren, unter ihnen viele Mitglieder des mit einer Million Angehörigen größten Stamms, der Warfalla, die angeblich unzufrieden waren, weil sie nur subalterne Armeeposten erhielten.Viele Warfalla-Offiziere wurden danach hingerichtet.

Die Proteste und Unruhen der vergangenen Wochen sind zum großen Teil Folgen dieser unausgewogenen Klientelpolitik. Die aus der Bevorzugung oder Benachteiligung bestimmter Stämme entstandenen Ressentiments gegen die Zentralgewalt in Tripolis bauten sich zum Sprengstoff auf. Auch nach der Beendigung der außenpolitischen Isolation Libyens im Jahr 2004, die mittelfristig eine von vielen erwartete innenpolitische Öffnung des Landes ermöglicht hätte, blieb das Regime reformresistent und repressiv. „Was wir jetzt in Bengasi gesehen haben“, urteilt Libyen-Expertin Isabell Werenfels, „war in erster Linie der Aufstand einer benachteiligten Region und von benachteiligten Stämmen. Der ganze Osten ist benachteiligt worden und das hat sich gerächt.“

Wie es in Libyen weitergeht, weiß allerdings im Grunde niemand. Am griffigsten brachte das in den letzten Tagen der Nahost-erfahrene britische Guardian auf den Punkt: „Libyen ist ein Sonderfall. In anderen Unruheländern – Ägypten, Jordanien oder Bahrain – lassen sich denkbare Szenarien entwickeln. In Libyen jedoch kann man nichts anderes  vorhersehen als Chaos und Gewalt.“

Experten befürchten nun, daß Libyen in Folge eines Sturzes des Regimes entlang seiner alten Grenzen wieder auseinanderbrechen könnte. Vor hundert Jahren waren italienische Truppen in das bis dahin zum Osmanischen Reich gehörende Gebiet einmarschiert und erst 1934 hatten die Besatzer aus ihren Eroberungen die italienische Kolonie Libia gebildet. „Die Bevölkerung im Osten sieht Bengasi als ihre wahre Hauptstadt“, heißt es. In einer gerade veröffentlichen Analyse des Stratfor-Instituts, eines auf geostrategische Studien spezialisierten US-Think-Tanks, wird nun schon eine „Korrektur der Geschichte“ prognostiziert.

Die Dominanz der Region um die Hauptstadt Tripolis sei erst von Gaddafi durchgesetzt worden, schreibt Herausgeber George Friedman: „Jetzt kann es gut sein, daß Libyen sich wieder in Tripolitania und Cyrenaika teilt und es zwei Machtzentren geben wird.“

Foto: Beduinenzelt in Libyens Wüste: Nach dem Warfalla- und Al-Zuwayya-Stamm begehren auch die Tuareg auf 

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