© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/11 25. Februar 2011

Mutter Ostpreußens mit gottlosem Mundwerk
Eine unbekannte Agnes Miegel: Selbstporträt der Künstlerin als junge Frau ohne jede Idealisierung des „Heimatlichen“
Lenard Meier

Die Gleichschaltung des öffentlichen Gedächtnisraums vollzieht sich beinahe geräusch- und widerstandslos. Der jüngsten Säuberungswelle fielen auch weitere Straßen und Schulen zum Opfer, die den Namen der ostpreußischen Schriftstellerin Agnes Miegel (1879–1964) trugen (JF 39/10). Fraglos ist diese Geschichts­entsorgung im Falle Miegels der „antifaschistischen“ Tscheka ungewöhnlich leicht gemacht worden, für die es lediglich eine poetische Parteigängerin der „Nazis“ und eine Ikone von „Revanchisten“ abzuräumen galt.

Das von tendenziell illiteraten Kulturfunktionären und Redakteuren geprägte landsmannschaftliche Rezeptionsmuster, in das Miegel als „Mutter Ostpreußens“ nach 1945 gepreßt worden ist, hat leider ihrer „politisch korrekten“ Verfemung unserer Tage kräftig in die Hände gearbeitet. Nicht daß ein weniger holzschnittartiger Umgang mit Biographie und Werk, eine weniger verdruckste, eine offensive Behandlung ihres NS-Engagements die Umbennung von Agnes-Miegel-Schulen und -Straßen verhindert hätte.

„Von ‘Heimatsluft’ allein kann man nicht leben“

Aber behindert und verzögert hätte dies die moderne Bilderstürmerei schon. Darum nimmt man die späte Edition eines stattlichen Briefkonvoluts, das eine „ganz andere“ Dichterin präsentiert, auch mit einem weinenden Auge zur Kenntnis. Herausgegeben von ihrem Patensohn Ulf Diederichs und der verdienten Miegel-Forscherin Marianne Kopp, liegen aus den Beständen des Marbacher Literaturarchivs fast 200 Briefe und Postkarten aus den Jahren zwischen 1901 und 1922 vor, die die Königsberger Lyrikerin an die heute gleichfalls in literarhistorische Vergessenheit gefallene Balladendichterin und Erählerin Lulu von Strauß und Torney (1873–1956) richtete, deren Gegenbriefe aber leider nicht erhalten sind.

Die junge Miegel, die sich ein ums andere Mal ihres „gottlosen Mundwerks“ rühmt, der jeder Brief sofort ins Gespräch umschlägt, die quirlig von Thema zu Thema „hopst“, hat nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit jener statuarisch-matronenhaften, aufs Patriotisch-Pathetische abonnierten „Ahnfrau Altpreußens“. Wenn schon preußisch, dann zeichnet sie preußische Selbstironie aus, die ihre Diktion fast in jedem Brief dominiert. Die später im Schatten des Versailler Diktats und erst nach Flucht und Vertreibung nahezu unvermeidliche Idealisierung des „Heimatlichen“ sucht man hingegen hier vergeblich, trotz der früh schon unerschütterlichen Bindung an ihr herbes „Colonialland“, an die samländische Ostsee, „der Magna Mater meiner Kindheit“.

Im Herzen Königsbergs, in der elterlichen Wohnung am Domplatz, erstickten die engen Verhältnisse jeden Versuch zu ihrer Verklärung bereits im Ansatz: „Unser schmutziger Kneiphof mit dem Pregelgeruch und dem entsetzlichen Lärm, unser lautes Haus mit den schauderhaften Mitbewohnern (...), alles ist mir zuwidrer denn je“, klagte sie im Herbst 1915. Eine Heimatidylle sieht anders aus. Zumal Fräulein Miegel, nach drei abgebrochenen Ausbildungen zur Kinderschwester, Lehrerin und Hauswirtschafterin, nicht nur als Schriftstellerin bei ihren Mitbürgern zunächst abblitzte und permanent unter Existenzsorgen litt – von „Heimatsluft“ allein, so ihr Lamento, könne sie schließlich nicht leben. Überdies fühlte sie sich seit 1906, nachdem ihre Mutter in eine Nervenheilanstalt eingeliefert worden war, als von Banalitäten zermürbte Hausfrau an ihren Vater „gekettet“, den sie bis zu seinem Tode 1917 pflegte.

Mit entsprechenden psychosomatischen Reaktionen, die sie unverblümt der Bückeburger Freundin anvertraute: Depressionen, Frigidität, vorzeitiges „Altweiberleben“, „verfrühtes Herbstwerden“ nebst rascher „Verfettung“. Und zu diesen „seelischen Leibschmerzen“ gesellten sich körperliche Leiden in lehrbuchartiger Opulenz: Galle, Magen, Darm, „Unterleib“, und natürlich als ständiger Begleiter der Rheumatismus, von dem sie vollstecke wie ein „alter Droschkengaul“. Bis 1922 geistert zudem durch viele Epistel die nie beerdigte Backfischliebe zu dem mäßig begabten Dichterkollegen Börries von Münchhausen, der um 1900 zu Lulu wie zu Agnes mehr als ein platonisches Verhältnis unterhielt, und der unterm Strich als veritabler corpsstudentischer Kotzbrocken figuriert.

Nichts steht in diesen Briefen, wie die Herausgeber eingangs betonen, „dem freien Austausch zweier ungebundener junger Frauen“ über die Widrigkeiten ihrer reichlich „emanzipierten“ Existenz entgegen. Nichts auch dem freien Blick auf eine bisher unbekannte, springlebendige und geistig zwar „spät entwickelte“, wie sie meint, aber sehr souveräne Agnes Miegel. Und diese literarische Entdeckungsreise dürfte demnächst vielleicht ihre Fortsetzung finden mit der Edition der in den allzu knappen, mitunter auch fehlerhaften „Erläuterungen“ von Kopp und Diederichs nur zitatweise eingestreuten Briefe an Ina Seidel. Die Marbacher Miegel-Quellen sind eben noch lange nicht erschöpft.

Für eher bildungsferne Antifa-Gouvernanten und ihre Büchsenspanner im Gossenjournalismus (Bild-Zeitungs-Titel vom 12. Februar zur jüngsten Straßen-Umbenennung, darunter auch einer Agnes-Miegel-Straße: „Stadt Celle ändert drei Nazi-Straßennamen“) dürften diese literaturwissenschaftlichen Feinheiten allerdings weiterhin keine nennenswerte Relevanz besitzen.

Marianne Kopp, Ulf Diederichs (Hrsg.): Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung. Agnes Miegel an Lulu von Strauß und Torney. Maro Verlag, Augsburg 2009, gebunden, 336 Seiten, Abbildungen, 22 Euro

Foto: Agnes Miegel, Königsberg 1902: „Unser schmutziger Kneiphof mit dem Pregelgeruch und dem entsetzlichen Lärm, alles ist mir zuwidrer denn je“

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