© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/11 25. Februar 2011

Der Westen und der Islam
Überlebensängste
von Gernot Hüttig

Zu den Befindlichkeiten der Heutigen zählen die Furcht vor dem Terrorismus und die vor dem Islam, zwei Phänomenen also, die sich überlagern: Terrorismus ist im Zweifel islamischer Terrorismus. Terrorismus und Islam sind dergestalt zum neuen Feind der westlichen Welt avanciert. Die Epiphanie des neuen Feindes läßt sich genau datieren, nämlich auf die Zeit unmittelbar nach dem Untergang des alten Feindes, des Sowjetimperiums. Vorher war der Islam nicht ansatzweise als Feind des Westens und der Terrorismus nicht einmal als existent wahrgenommen worden. Die Bestimmung des neuen Feindes ging im wesentlichen von den USA aus und bediente sich der von ihnen gesteuerten Institutionen.

Daß nach dem Verschwinden des alten Feindes nahtlos ein neuer an dessen Stelle treten konnte, gehört zu den Merkwürdigkeiten der neuen Geschichte. Der unverzügliche Austausch deutet darauf hin, daß jede Zeit eines Feindes bedarf. Neu ist freilich, daß der Feind diesmal nicht von der nationalen und nicht einmal von der europäischen Politik bestimmt wurde, sondern von außen her.

Das gibt zu denken. Denn, so eine Schlüsselformulierung Carl Schmitts, „wenn ein Volk die Mühen und das Risiko der politischen Existenz fürchtet, so wird sich eben ein anderes Volk finden, das ihm die Mühen abnimmt, indem es seinen Schutz gegen äußere Feinde und damit die politische Herrschaft übernimmt; der Schutzherr bestimmt dann den Feind, kraft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam (...). Läßt sich ein Volk von einem Fremden vorschreiben, wer sein Feind ist und gegen wen es kämpfen darf oder nicht, so ist es kein politisch freies Volk mehr und einem anderen politischen System ein- oder untergeordnet.“

Zwei Jahrzehnte währt nun also der Ansturm des Islam und des Terrorismus. Doch welche Wunden hat der Westen in dieser Zeit davongetragen? Wohl nicht mehr als in den Jahrzehnten davor. Und das, obgleich liberale Gesellschaften das Eindringen von Terroristen zu hindern praktisch außerstande sind und sich in ihrer Mitte islamische Parallelgesellschaften festgesetzt haben. Soweit in den westlichen Gesellschaften terroristische Störungen überhaupt zu verzeichnen sind, werden diese dank der geschürten Erwartung automatisch dem Islam zugeordnet, wie Angriffe auf Ausländer a priori von „Rechten“ auszugehen haben.

Nehmen wir den Anschlag auf das World Trade Center: Abseits der gängigen Verschwörungstheorien, wonach der US-amerikanische Geheimdienst seine Finger im Spiel hatte, muß die Frage erlaubt sein, warum es dem islamischen Terrorismus einerseits gelang, ein solch komplexes Unternehmen durchzuführen und er andererseits daran scheiterte, die elementaren sozialen Mechanismen in den feindlichen Staaten anhaltend zu stören, wozu doch ganz einfache Eingriffe ausgereicht hätten? Am Mut, das Leben aufs Spiel zu setzen, mangelt es den Islamisten wohl kaum.

Terrorismus und Islam sind nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zum neuen Feindbild des Westens avanciert. Trotz mehrfacher Angriffskriege gegen die islamische Welt haben sich die Muslime erstaunlich friedfertig verhalten.

Die Friedfertigkeit der islamischen Welt gegenüber dem Westen, die nicht nur in der Wehrlosigkeit gründet, verdient um so mehr Bewunderung, als sich der Westen in jüngster Zeit mehrerer verheerender Angriffskriege gegen islamische Staaten und deren anhaltender Unterwerfung schuldig gemacht hat. Einem dieser Kriege vorausgegangen war eine Wirtschaftsblockade gegen den Irak, die Schätzungen der Unesco zufolge zirka 1,5 Millionen Iraker, vorwiegend Kinder, das Leben kostete.

Auf die Option eines weiteren völkerrechtlichen Verbrechens gegen die islamische Welt, eines Angriffskriegs gegen den Iran, wird die Welt gerade psychologisch eingestimmt, indem dem von atomar bewaffneten Mächten umringten Iran das Recht abgesprochen wird, sich gegen Übergriffe zu rüsten. Zum Hintergrundrauschen gehört, der iranischen Führung einen Hang zum religiösen Irrationalismus zuzuschreiben, ohne daß dem Westen die eigene Irrationalität bei der Drohung mit einem Präventivschlag in den Sinn kommt.

Soweit von der islamischen Welt Gewalt gegen den Westen ausgeht, beschränkt diese sich im wesentlichen auf die Verteidigung im eigenen Land. Sie bedient sich dabei der Form des Partisanenkriegs, weil die Kräfteverhältnisse den Widerstand in anderer Gestalt verbieten. Anders als der Terrorist kämpft der Partisan in der eigenen Heimat. Er ist ein tellurischer, einem konkreten Raum verbundener Kämpfer, dessen Kriegsziel sich auf die Befreiung der Heimat beschränkt, der deshalb anders als der in fremde Räume übergreifende Aggressor keine universalistischen Ziele verfolgt und dem folglich auch die absolute Feindschaft fremd ist. Wohl haben sich in den besetzten und neuerdings in mehreren anderen halbkolonialen islamischen Ländern bürgerkriegsartige Lagen eingestellt. Sie als Beleg für die Aggressivität des Islams auszugeben, heißt Ursache und Wirkung auf den Kopf stellen.

Unbeschadet ihrer abwegigen Diagnose und Therapie berührt die Islamophobie allerdings das Schicksalsthema unserer Zeit. Islamische Massen im Schoß der europäischen Völker bedrohen die Ordnung der aufnehmenden Völker, vor allen Dingen das demokratische Prinzip selbst, die heute einzige Quelle staatlicher Legitimität.

Dieses Prinzip beruht auf einer Reihe von Identitäten, insbesondere der Identität von Regierenden und Regierten. Die Kehrseite des demokratischen Gleichheitspostulats liegt darin, daß notwendigerweise Ungleiches nicht gleich behandelt und heterogene Elemente ausgeschieden werden, „mögen sie nun Barbaren, Unzivilisierte, Atheisten, Aristokraten oder Gegenrevolutionäre heißen. (...). Seit dem 19. Jahrhundert besteht die Gleichheit vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, in der nationalen Homogenität. (...). Bisher hat es noch keine Demokratie gegeben, die den Begriff des Fremden nicht gekannt und die Gleichheit aller Menschen verwirklicht hätte“, so Carl Schmitt.

Die Bedrohung entspringt indes nicht der Zugehörigkeit der Zuwanderer zum Islam: die gleiche Bedrohung ergäbe sich im Fall der Zuwanderung fernöstlicher oder afrikanischer Massen. Statt die Zuwanderung fremder Massen zu unterbinden, erwarten die Verantwortlichen von den Zuwanderern, daß sie sich integrieren und sogar assimilieren. Der Moslem soll Kernbestände seiner Kultur aufgeben, etwa seine Vorstellung vom Verhältnis der Geschlechter oder von der Religionsfreiheit.

Doch weshalb, so ist zu fragen, soll der Angehörige einer viel älteren und zum Stolz berechtigenden Kultur, die in drei Erdteilen ihre zivilisatorische Kraft unter Beweis gestellt hat, sich veranlaßt sehen, sich der abendländischen Welt ein- und anzupassen, statt seine Eigenart in Parallelgesellschaften zu bewahren? Hier deutet sich an, was der Multikulturalismus bewußt oder unbewußt im Schilde führt: den Bürgerkrieg, in dem allein aus demographischen Gründen langfristig die Autochthonen den kürzeren ziehen werden. Nicht nur die „Türken vor Wien“, sondern auch die „Türken in Berlin“ weisen den Weg zum clash of civilizations (Samuel Huntington), der unter den Bedingungen der multikulturellen Gesellschaft ein Bürgerkrieg ohne Gnade sein wird. Wir sehen in unseren Großstädten erste Barrikaden emporwachsen.

Ernst zu nehmen ist der Einwand, das eigene Interesse erfordere die Zuwanderung. Denn alles deutet darauf hin, daß die Infertilität der alten europäischen Völker schicksalsbedingt und nicht nachhaltig beeinflußbar ist, sich Europa also zunehmend in einen „Raum ohne Volk“ verwandelt. Doch gebietet diese Entwicklung nicht, die Grenzen für alle Welt zu öffnen. Vielmehr kommt es darauf an, homogene Zuwandererschichten zu erschließen, nämlich solche aus dem eigenen Kulturraum, denen gleiche oder verwandte Wertvorstellungen und Lebensformen erlauben, sich schnell und störungsfrei einzugliedern.

Die Bedrohung entspringt nicht der Zugehörigkeit der Zuwanderer zum Islam, sondern der Massenzuwanderung selbst. Die Feinde unserer Ordnung sind nicht die Muslime, sondern die Multikulturalisten, die die Zuwanderung organisieren.

Die Fähigkeit und der Wille, sich durch Attraktion und Selektion diese Teile der Zuwanderungswilligen zu sichern, markiert heute den Stellenwert eines Landes. Räume werden nicht mehr ihrer Bodenschätze halber kolonisiert, sondern die alten Metropolen saugen, indem sie sich infertilitätsbedingt leeren, Menschen aus der Provinz in sich hinein, um ihre Arbeitskraft in Dienst zu stellen. Als „Humanrohstofflager“ ließe sich die Kolonie unserer Tage umschreiben, die geeignete Zuwanderer feilhält.

Der Fall des eisernen Vorhangs – ein im Hinblick auf wiederbelebbare Bindungen ausgesprochener Glücksfall für Mitteleuropa – hat das Tor für die Humanabschöpfung kulturell nahestehender Provinzen in Ostmittel- und Osteuropa aufgestoßen. Die Folgen für die Provinz, so etwa die Abschöpfung der Jungen und Kreativen in den neuen Bundesländern, mag man bedauern. Der neue Kolonialismus pflügt jedoch tiefer als der alte: er konsumiert die Völker. Man kann nicht behaupten, die Deutschen hätten die sich ihnen bietende Chance ergriffen, sie haben sie nicht einmal erkannt.

Feinde der europäischen Völker sind weder der Islam noch ein von diesem getragener Terrorismus. Der Islam in seinem Raum gehört vielmehr zu den Säulen der Welt. Ihn beckmessern und umerziehen zu wollen, zeugt von hoffnungsloser Einfalt- oder Hintergedanken. Feinde sind einzig jene Geister, die Zuwanderung Kulturfremder fördern und dadurch unsere Ordnung zerstören.

Ihnen liegt die Einsicht fern, daß Völker nur dann friedlich koexistieren, wenn sie die Eigenart der anderen anerkennen und eben deshalb den ihnen zugeordneten Raum nicht in Frage stellen, auch nicht durch Zuwanderung. Ihnen spielt in die Hände, daß Paradoxien die Einsicht erschweren: Gerade die Zuwanderung aus dem nahen Osten vergiftet die traditionell guten, nicht durch Kolonialverbrechen belasteten Beziehungen Deutschlands zur islamischen Welt. Das traditionell spannungsfreie Verhältnis zur Türkei würde just durch den Beitritt der Türkei zur EU heillos zerrüttet.

Der Kampf gegen den Islam bedient – soweit er nicht bezweckt, die Zuwanderung aus dem islamischen Raum zu drosseln und umzukehren – letztlich außereuropäische Begehrlichkeiten. Durch die vordergründigen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen des Westens an der Überwältigung islamischer Staaten schimmern, dezent drapiert, erneuerte alttestamentarische Händel. Ein Déjà-vu. Das Alte Testament als politische Lektüre, wie lang ist das eigentlich her?

Von hier aus lassen sich die wiederholten Israelbesuche von Politikern, die für einen Teil der europäischen Rechten stehen, überblicken. Die Menschheit sei, so die Besucher, einer neuen weltweiten totalitären Bedrohung ausgesetzt, nämlich der durch den „fundamentalistischen Islam“. Im gleichen Atemzug fordern sie die Indienststellung des Westens: „Wir betrachten uns als Teil des weltweiten Kampfes der Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten gegenüber allen totalitären Systemen und deren Helfershelfern.“ Wer macht sich hier zu Helfershelfern von Unterdrückern? Durch diese Indienststellung des Westens könnten vielleicht die nahöstlichen Probleme gewaltsam und einseitig gelöst werden, nicht aber die Schicksalsfrage der Islamisierung Europas.

 

Gernot Hüttig, Jahrgang 1943, Jurist, war bis zu seiner Pensionierung 2008 Amtsgerichtsdirektor in Bad Arolsen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Ende der Kriegsdenkmäler („Der politische Totenkult“, JF 46/10).

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