© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/11 25. Februar 2011

Mit Friedensgebeten gegen Thilo Sarrazin
Integrationsdebatte: In Halberstadt ist innerhalb der Kirche ein bizarrer Streit über eine geplante Lesung des Bestsellerautors entbrannt
Christian Dorn

Nachdem die bisherigen Lesungen und Vorträge Thilo Sarrazins, des erfolgreichsten Sachbuchautors der deutschen Nachkriegsgeschichte, wiederholt Störungen ausgesetzt waren, nehmen die Auseinandersetzungen um seine Auftritte immer absurdere Formen an. Nachdem die Technische Universität Berlin noch unlängst einen Vortrag Sarrazins unter dem Druck von „Linksfaschisten“ (Sarrazin) abgesagt hatte, versucht nun ein Bündnis linker Kräfte einen Auftritt Sarrazins im sachsen-anhaltinischen Halberstadt zu verhindern.

In der von zwei Pastoren initiierten und moderierten Veranstaltungsreihe „Halberstädter Abende“, die in der Winterkirche des Halberstädter Doms stattfindet, ist für diesen Donnerstag Thilo Sarrazin angekündigt. Der Widerspruch gegen diese Einladung ließ nicht lange auf sich warten.

Vorläufiger Höhepunkt der Gegnerschaft, die auch aus den Reihen der Kirche selbst stammt, ist das seit vergangenen Sonntagabend stattfindende „Friedensgebet“ in der dem Dom gegenüberliegenden reformierten Liebfrauenkirche. Zu diesem, so die Pfarrerin Angela Kunze-Beiküfner zur Lokalzeitung Halberstädter Volksstimme, „treffen sich täglich Gemeindemitglieder des Ev. Kirchspiels und Mitarbeiter der Kirche zu einem Friedensgebet. Damit soll das Unverständnis und die Empörung über die Einladung des Kirchspiels an Dr. Thilo Sarrazin in einen Gottesdienstraum zum Ausdruck gebracht werden“. Bei vorangegangenen Abenden mit Gregor Gysi oder Claudia Roth, die früher ebenfalls zu Gast waren, schien die Kirche indes keine Probleme zu haben. Brisanz erfährt der Termin mit Sarrazin durch die anstehende Wahl in Sachsen-Anhalt, bei der sich die NPD Hoffnungen macht, in das Landesparlament einzuziehen. Entsprechend hat sie angekündigt, den „Wahlkampfhelfer Thilo Sarrazin“ mit einem ganztägigen Infotisch im Stadtzentrum und mit einer Kundgebung auf dem Domplatz zu begrüßen.

Infolgedessen veröffentlichte die Halberstädter Volksstimme in der vergangenen Woche unter der irritierenden Überschrift „Deutsche Christen entsetzt“ einen dreispaltigen Leserbrief des regional bekannten Rechtsextremismus-„Experten“ Mathias Rösener. Darin warf dieser dem Kirchspiel Halberstadt vor, NPD-Propaganda zu betreiben. Schließlich leiste dieses mit der Einladung an Sarrazin einer „Entwicklung Vorschub“, die Halberstadt – durch deutschlandweite Schlagzeilen in den vergangenen Jahren – „zu einer der Hochburgen der Hetzer von der NPD“ gemacht habe. Hierauf wiederum sahen sich die Initiatoren der Veranstaltungsreihe, Pfarrer Harald Kunze und Pfarrer Hartmut Bartmuß, genötigt, eine Erklärung abzugeben. Darin beteuerten sie, „hinlänglich als bewährte Antifaschisten bekannt“ zu sein. Um zu verhindern, daß der Abend „für Wahlkampfzwecke“ mißbraucht wird, kündigten sie Gegenmaßnahmen an: „Kenner der braunen Szene werden dem Einlaßdienst assistieren. Mitglieder der NPD, der sogenannten Sarrazinischen Partei und auch deren Umfeld, wird der Eintritt verwehrt werden. (...) Denn wir stehen ungebrochen dazu, daß Halberstadt nie wieder braun werden darf, aber immer bunt bleiben muß.“

Für den ehemaligen Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt, Matthias Gabriel, dessen Vater zu DDR-Zeiten das Pfarramt an der Liebfrauenkirche Halberstadts bekleidet hatte, verkörpert das Gebaren „seiner“ Kirche eine „Kultivierung von Mißverständnissen“. Gegenüber der JF führt der einstige SPD-Mitgründer und erste Oberbürgermeister der Stadt Halberstadt weiter aus: „Was soll der Unsinn? Die sollen sich lieber mal über eine vernünftige Sonntagspredigt Gedanken machen.“ Ein anderer Kenner Halberstadts, der nicht namentlich genannt werden will, antwortete auf-Nachfrage lakonisch: „Halberstadt ist ein pathologisches Pflaster – jetzt ist es auch ein geistiges Trümmerfeld.“

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