© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

Die Natur verhält sich nicht moralisch
Der Philosoph Günter Zehm präsentiert verschiedene Perspektiven auf die Theorien über das Leben
Harald Seubert

Ein philosophischer Autor wird um so besser, je stärker er bei seiner eigensten Frage ist. Die Edition der Vorlesungen von Günter Zehm kommt diesem Punkt immer näher. Dies zeigte sich schon bei dem Buch über den „gesunden Menschenverstand“, es zeigt sich jetzt erst recht, indem Zehm den unhintergehbaren Grund allen Denkens, das zugleich das entfernteste ist, zum Thema macht: das Leben. Notabene: Zehms Verständnis von Leben läßt sich nicht auf alte Dualismen über Leben versus Vernunft zurückführen.

Er beginnt zwar, mit allen Wassern des gelernten Biologen, mit Aperçus und Überlegungen über den Quantensprung des Lebens, die ungeheure Vielheit, Amoralität und Zerstörungslust, die Fortpflanzung und Evolution begleitet. Liebe bleibt Kind des Chaos. Deutlich wird, daß sich die Natur nicht in Analogie zur Moral verhält. Deshalb konnte Friedrich Hebbel mit Recht sagen: „Die Natur kränkt mich!“ Sehr zu Recht weist Zehm auf die Fehlorientierung der Metapher vom „genetischen Code“ hin. „Nie und nimmer wird sich die Dignität des Menschen aus der Anzahl seiner Gene berechnen lassen.“ 

Eindrücklich bleibt das Bild des explosionsartigen biotischen Gewimmels in einem Frühlingswald, der nur aus dem Abstand als beruhigt-beruhigende Idylle erscheint. Den Band durchzieht dann eine Reihe souveräner Portraits großer Lebensphilosophen, die gerade von dem Grenz- und Grundphänomen Leben her ihr Denken selbst erprobten und damit die tradierte Metaphysik des ersten Prinzips, des Schweigens von sich selbst (Bacon) und der Untangierbarkeit in Frage stellten. Ihnen gilt Zehms Sympathie – und er faßt ihren Rayon denkbar weit. Es beginnt mit Wilhelm Dilthey, dem Denker des Erlebens und der historischen Vernunft. Leben ist der unhintergehbare Grund von Geschichte und Verstehen, das tiefere Apriori.

Auch Alfred North Whitehead, ursprünglich mit Russell zusammen Verfasser der „Principia Mathematica“, gehört in die Zehmsche Genealogie einer veritablen Lebensphilosophie. Hatte er doch den Kosmos als einziges Lebewesen verstanden und die neuzeitlich-cartesischen Dualismen von hier aus gründlich dementiert: vor der Einsicht, daß jede einzelne Entität ein Fall der Welt im ganzen ist. Was auch der Rezensent nicht wußte: Ernst Bloch, Zehms großer Leipziger Lehrer, hat sich bei Whitehead bedient und die utopischen Potentiale der Prozeßmetaphysik ans Licht gebracht.

Nicht minder inspirierend, den Anfänger in brillanter Stilsicherheit in neue Denkwelten einführend, den Kenner immer wieder zu Reflexion und Widerspruch fordernd, sind die Abschnitte über die großen Außenseiter und philosophischen Seismographen des 19. Jahrhunderts Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche. Kaum irgendwo sonst wird man die Existenzdialektik des dänischen „Spions Gottes“, den Sprung in das Totalexperiment christlichen Glaubens und das Beben seiner Rezeption so pointiert als Lebensproblem evoziert finden wie bei Zehm. Und ähnlich konzise und vielperspektivisch fällt das Nietzsche-Portrait aus, das von Gottfried Benns berechtigtem Epitheton: „Für meine Generation war er das Erdbeben der Epoche“ her die Tektonik des „Zarathustra“ mit dem abgründigsten Gedanken ewiger Wiederkehr des Gleichen als Nervus probandi der Lebensphilosophie ins Relief treibt.

Besonders brillierend ist das Sartre-Kapitel, womit Zehm zum Thema seiner Dissertation (bei Adorno und Carlo Schmid) zurückkehrt: Er zeigt die Bitterkeit des Ekels, ein Spielen, das man spielt und das nicht mehr Resonanz auf das freie Spiel gibt, in dem der Mensch im Sinne Schillers erst ganz Mensch ist. Die mauvaise foi, als Lebenslüge, wird ebenso erinnert wie die Zentralstellung, die Sartre dem Begehren zuerkennt. Sartre zufolge begehren wir den anderen freilich nur, um ihn zur Abdankung seiner Freiheit zu nötigen. Sartres Blick ist der des Caféhausbesuchers, der die Menschenströme außerhalb beobachtet und ihnen seine Charakteristik der conditio humana abliest. Die Sympathien Zehms gelten allerdings nicht Sartre, sondern Albert Camus, dessen „absurd“ metaphorisch auf den dissonanten Gegenton verweist: Camus hielt es, anders als Sartre, in der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ aus und floh nicht in parteiliche Engagiertheiten, die wohl die Kehrseite einer in jedem Augenblick neu zur Entscheidung stehenden absoluten Freiheit sind.

Es spricht weiter für Zehm, daß er auch die Husserlsche Begründung einer Urwissenschaft aus dem Bewußtseinsstrom und erst recht Husserls späte Rettung der Lebenswelt in seine Thematik einbezieht. Dies wirft die Frage auf, ob eine Begründung von Philosophie als Urwissenschaft anders denn lebens- und konkretionsorientiert sein kann. Sie muß alle wissenschaftlichen Vorpräparierungen hinter sich lassen. Zwei Kapitel sind Heidegger gewidmet: Das Aufregendste und Neue ist dabei wohl, daß er bei Zehm auch als Denker des gesunden Menschenverstandes firmiert, der über die Grenzen der Philosophie hinausgeht.

Diese Portraits sind unterlegt mit moralphilosophischen Skizzen über das Lebensphänomen im Sinne Montaignes, durchaus eine Zehmsche Lebensphilosophie in nuce: Sie handelt unter anderem von der unheimlichen Nachbarschaft zwischen Eros und Tod, von Totenverehrung und der Blendung durch den Glanz des Goldes, aber auch von der Verführung durch ein – vermeintlich – unendliches Wachstum. 

Eine tiefe Skepsis gegenüber allen Optimierungsutopien und dem Versuch, die Welt in die Wohnzimmer zu holen, schließt den Überlegungsbogen ab. Zehm hat ein funkelndes Buch geschrieben, in dem Nähe und Ferne gleichermaßen bedacht sind. 

 

Prof. Dr. Harald Seubert lehrte Philosophie an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Halle-Wittenberg. Seit 2006 ist er Ordinarius für Kulturphilosophie und Ideengeschichte des deutschen Sprachraums an der Universität Posen

Günter Zehm: Mutter Erde, Vater Gott. Vom Ursprung des Lebens und seinen Gestalten. Edition Antai­os, Schnellroda 2010, gebunden, 370 Seiten, 25 Euro

Foto: Raffael, Die Schule von Athen (1510/11): Im Zentrum unterhalten sich Platon und Aristoteles, vorne sitzen Heraklit und Diogenes

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