© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

CD: A. Schnittke
Sinfonisches Vermächtnis
Sebastian Hennig

Alfred Schnittke wurde 1934 in Engels, der damaligen Hauptstadt der autonomen Wolgadeutschen Republik als Sohn eines Journalisten aus Frankfurt und einer Deutschlehrerin geboren. In einer unangefochtenen Welthauptstadt der Musik, in Wien, wo sein Vater nach dem Krieg arbeitete, nahm seine musikalische Bildung ihren Lauf. Ein feines Geflecht verbindet die Musik Schnittkes mit der von Bach und Händel bis zu Zimmermann. Wobei sein ungestümer Zugriff auf diesen Vorrat durchaus etwas Östliches hat, durch seinen wilden Impetus.

1980 wurde in London seine 2. Sinfonie „St. Florian“ uraufgeführt. Deren sechs Sätze folgen dem Meßordinarium und zitieren liturgische Melodien. Die Idee zu diesem bekenntnishaften Werk kam dem Künstler während eines Besuches im Stift St. Florian bei Linz, wo Anton Bruckner wirkte und unter der großen Orgel seine letzte Ruhestätte fand. Die Vorgängersinfonie wurde im für ausländische Besucher gesperrten Nischni Nowgorod (damals Gorki) uraufgeführt. Damit wollte das Regime den Wirkungskreis einer ungewöhnlichen Kunst überschaubar halten, die schon 1966 während der Tage für Neue Musik in Donaueschingen Aufmerksamkeit erregte.

Doch die dritte Sinfonie war ein Auftragswerk für das Leipziger Gewandhausorchester, das einst die siebente Sinfonie Bruckners aus der Taufe hob. Kurt Masur wird zehn Jahre später für die New Yorker Philharmonie eine weitere Sinfonie beim Meister bestellen. Beide Werke nehmen mit monogrammatischen Tonfolgemotiven und mit direkten musikalischen Zitaten auf Deutschland Bezug.

Die fünfte Sinfonie ist identisch mit dem vierten Concerto Grosso. Insgesamt sechs Concerti Grossi hat Schnittke komponiert. Seine Musik ist darin eine Fortsetzung der neoklassizistischen Strömungen der dreißiger Jahre im schmerzlich-pathetischen Geist eines Gustav Mahler. So wie dieser die Militärmusik seiner Kindertage als musikalische Spolien in seine Musik einbaut, so entnimmt auch Schnittke seine Zitate oftmals Sekundärquellen, denen allerdings das Heitere und die frische Luft der mährischen Dörfer mangelt. Es sind vielmehr die blechernen Musikfetzen wie sie bei Militärparaden, Begräbnisfeiern und Parteitagen aus den öffentlichen Lautsprechern und den Rundfunkempfängern des roten Völkergefängnisses lärmten.

Infolge einer Lähmung der Schreibhand notierte Schnittke die letzte, neunte Sinfonie mit links. Dadurch wurde die Partitur nach seinem Ableben zu einem kryptischen Text. Was bei Mahlers Zehnter zu Rekonstruktionsversuchen herausforderte, gestaltete sich bei Schnittke zu einem langwierigen Entzifferungsprojekt. Sein Vermächtnis wurde erst 2007, neun Jahre nach seinem Tod, durch die Dresdner Philharmonie das erste Mal zum Klingen gebracht. Schnittkes Orchesterwerk wurde oft eingespielt, zuletzt wurden seine Filmmusiken rehabilitiert, jenes Genre, in dem sowjetische Komponisten ihre gesellschaftspolitische Nützlichkeit beweisen durften.

Die Zusammenfassung des sinfonischen Werkes in einer Box gibt nun anhand von qualitätvollen Einspielungen die Gelegenheit, sich umfassend mit der Musiksprache eines der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bekannt zu machen.

Alfred Schnittke: The Ten Symphonies, Bis (Klassik Center Kassel) www.bis.se

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