© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

„Das ist viel zu wenig“
Pflegeversicherung: Zahl der Hilfebedürftigen steigt / Kostensteigerung und demographische Entwicklung gefährden Finanzierung
Paul Rosen

Das waren noch vermeintliche goldene Bonner Zeiten: 1992 stellte sich der damalige CDU-Sozialminister Norbert Blüm („Die Renten sind sicher“) vor die Presse und kündigte die Schaffung einer „fünften Säule der Sozialversicherung“ an. Kranken-, Arbeitslosen-, Renten- und gesetzliche Unfallversicherung gab es schon seit Jahrzehnten, 1995 trat die Pflegeversicherung hinzu. Das Risiko der hohen Kosten im Pflegefall sollte abgesichert und ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Vollkaskostaat gemacht werden.

Skeptiker, die auf zu stark steigende Lohnnebenkosten (BDI-Chef Tyll Necker sprach von einer „Kriegserklärung an die deutsche Wirtschaft“) und auf eine ungünstige demographische Entwicklung verwiesen, blieben ungehört. Blüm kam seinen Kritikern insoweit entgegen, als daß er der Abschaffung eines Feiertages zustimmte. Seinerzeit wurde – außer in Sachsen – der bezahlte Buß- und Bettag abgeschafft, um die Wirtschaft von steigenden Beiträgen zu entlasten. Spötter kommentierten die Abschaffung mit dem Hinweis, kein Bäcker werde ein Brot mehr verkaufen, wenn er am Buß- und Bettag seinen Laden öffne. Zudem hatte die Feiertagsabschaffung eine unrühmliche Tradition: 1967 strich die DDR-Führung mit ökonomischen Argumenten den Ostermontag, Christi Himmelfahrt, den Reformationstag sowie den Buß- und Bettag.

Heute profitieren 2,2 Millionen Menschen von der Pflegeversicherung (PV). Schon Blüm hatte den Kreis der Leistungsberechtigten stark eingegrenzt, um eine sofortige Ausgabenexplosion zu verhindern. Die Folge: 2,5 Millionen weitere Hilfsbedürftige werden überwiegend zu Hause gepflegt, ohne daß sie viel von der PV hätten. Nur für die etwa 750.000 Demenzkranken unter ihnen gibt es eine weit unter den üblichen Versicherungssätzen liegende Pauschale von 200 Euro monatlich. Dies liegt daran, daß die PV auf körperliche Störungen abstellt. Kognitive Störungen spielen kaum eine Rolle. Würden sie berücksichtigt, erwarten Experten nach einem Bericht der Handelsblatts sofortige Mehrkosten in Höhe von 3,7 Milliarden Euro – und einen kräftigen Beitragsanstieg. Der Druck, mehr zu tun, steigt: „Das ist viel zu wenig“, kritisiert Heike von Lützau-Hohlbein, Vorsitzende der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft, im Spiegel zu den 200 Euro.

Steigende Beitragssätze sind der Pferdefuß der gesamten Sozialversicherung, die auf einem zu Kaisers Zeiten eingeführten Umlagesystem beruht. Danach teilen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer den an der Lohnhöhe ausgerichteten Beitrag. Das System funktioniert nur bei einer klassischen Alterspyramide: unten viele Junge, oben wenige Alte. Bei weniger Kindern bricht es zusammen. Kanzler Konrad Adenauer (CDU) wischte Hinweise auf demographische Veränderungen mit der Bemerkung „Kinder kriegen die Leute immer“ beiseite – ein folgenschwerer Irrtum, der zum Kollaps aller Systeme führen wird. Auf dem Weg dorthin wirkt Blüms PV noch wie ein Brandbeschleuniger.

Einige Zahlen veranschaulichen die Entwicklung an der Beitragsfront: So betrug der Gesamtsozialversicherungsbeitrag (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile zu allen Versicherungszweigen) 1970 in der alten Bundesrepublik 26,5 Prozent. 1980 war er bereits auf 32,4 Prozent gestiegen, 1990 auf 35,6 Prozent. 1996 war mit 40,9 Prozent (wegen der neuen Pflegeversicherung) erstmals die 40-Prozent-Marke überschritten worden. Seitdem bewegt sich der Beitragssatz um die 40 Prozent. Er konnte nur deshalb stabil gehalten werden, weil parteipolitisch unterschiedlich ausgerichtete Regierungen das gleiche taten: Sie kürzten Leistungen und erhöhten die Zuschüsse an die Sozialkassen aus Steuermitteln des Bundes. Anders ausgedrückt: Angesichts der Staatsverschuldung wurden und werden die Sozialkassen teilweise über Kredite finanziert.

Außerdem wurde der Arbeitslosenversicherungsbeitrag, der sich bis 2006 mit 6,5 Prozent Beitragssatz zu einer Art Arbeitsmarktsteuer entwickelt hatte, bis auf 2,8 Prozent gesenkt. Auch hier wurden natürlich keine Ausgaben gespart, sondern auf den Bundesetat (sprich: Hartz IV) und damit die Verschuldung verlagert. Seit 2011 geht die Rechnung nicht mehr auf : Der Arbeitslosenbeitrag mußte wieder auf drei Prozent angehoben werden, der Krankenkassenbeitrag von 14,9 auf 15,5 Prozent.

Der Pflegeversicherung droht auch ohne die vor allem von den Sozialverbänden geforderte Ausweitung auf Demenzkranke und andere Kranke mit kognitiven Störungen Ungemach. Zwar hat Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) 2011 zum „Jahr der Pflege“ ausgerufen und Reformen angekündigt. Doch die christlich-liberale Koalition zeigt sich zerstritten. Für Beruhigung sollte eine Nachricht aus dem Hause Rösler sorgen: Danach soll der Beitragssatz zur Pflegeversicherung mit 1,95 Prozent (Kinderlose zahlen einen kleinen Zuschlag von 0,25) bis 2014 – und damit einige Monate länger als bisher gerechnet – stabil bleiben. Ohne Reformen würde der Beitragssatz, so die Berechnungen des Rösler-Ministeriums, bis zum Jahr 2050 auf 2,8 Prozent steigen. Die Zahl der Pflegebedürftigen könnte dann 4,5 Millionen betragen. Zu den außerdem verbreiteten schlechten Nachrichten gehört, daß 2025 etwa 152.000 Pflegekräfte fehlen sollen.

Die Rechnung berücksichtigt nur, daß die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. Umgekehrt sinkt aber die Zahl der zahlungskräftigen Beitragszahler durch den Geburtenrückgang und die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft dürfte durch sinkende Bevölkerungszahlen zurückgehen. So rechnet Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“, Seite 456 ff.) vor, daß sich die Zahl der Einwohner in Deutschland von derzeit 81,7 auf 66,6 Millionen im Jahr 2050 reduzieren wird. Die Zahl der voll Erwerbstätigen wird im gleichen Zeitraum von 34 auf 24 Millionen sinken, die Zahl der über 65jährigen von 16,8 auf 23,5 Millionen steigen. Entsprechend steigt auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Das bedeutet dann nicht nur das Ende der PV in ihrer heutigen Form, sondern der Sozialversicherung insgesamt.

Foto: Pflegeheim: Im Jahr 2050 schon 4,5 Millionen Pflegebedürftige?

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