© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/11 11. Februar 2011

Bilanzen des Schreckens
Auch ein Jahr nach der Veröffentlichung des Abschlußberichtes über die Zahl der Bombenopfer in Dresdens verstummt die Diskussion nicht
Björn Schumacher

D ie 2004 einberufene „Dresdner Historikerkommission“ galt Kritikern stets als Werkzeug zur politisch korrekten Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs. Ihr Initiator, FDP-Oberbürgermeister Roßberg, verknüpfte Schätzungen von über 35.000 Bombentoten mit „rechtskonservativen und neonationalistischen Kreisen“. Einige Kommissionsmitglieder waren für Bagatellisierungen des Terrorluftkriegs bekannt. Helmut Schnatz hatte Zeitzeugen, die Tieffliegerangriffe auf Dresden bekundeten, „zählebige Legenden“, „Verstörtheit“ und „fortbestehende Denkblockaden“ attestiert. Ärgerliche Tatsachenbehauptungen und wehrmachtsfeindliche Spekulationen des Kommissionsleiters Rolf-Dieter Müller schilderte bereits der Dresdner Zeithistoriker Wolfgang Schaarschmidt nach Veröffentlichung der Ergebnisse der Kommission im Frühjahr 2010 (JF 18/10).

Die Schätzung von „bis zu 25.000 Bombentoten“ im Abschlußbericht entspricht dem Archivmaterial. 22.096 erschließen sich aus einer Mitteilung der Dresdner Polizei vom 31. März 1945, 21.271 aus Aufzeichnungen der wichtigsten Friedhöfe. Weniger Tote können es nach den Regeln des juristischen Vollbeweises, also „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, kaum sein. Gleichzeitig beschreiben diese Zahlen den denkbar günstigsten Fall, in der Wissenschaftstheorie Best Case genannt.

Leider ist der denkbar günstigste Fall selten auch der realistischste. Diesen in allen Facetten zu erforschen, wäre die selbstverständliche Aufgabe der Kommission gewesen. Sie wurde wegen zweier spekulativer Prämissen unbefriedigend gelöst: Erstens, so der Abschlußbericht, seien „die in Dresden getöteten Menschen bis auf sehr wenige Ausnahmen tatsächlich geborgen und bestattet worden“. Zweitens seien „bei der Bergung und Bestattung der Luftkriegstoten dokumentarische Nachweise zu jeder getöteten Person angelegt“ worden, die „im wesentlichen noch auffindbar und auswertbar“ seien. Wie kühn solche Festlegungen sind, zeigen die unscharfen, beschwichtigenden Thesen zur Zahl der im Feuersturm „rückstandslos verbrannten“ oder in später zubetonierten Kellern verbliebenen Leichen.

Der Name des zentralen Zeugen Hanns Voigt taucht im Kommissionsbericht überhaupt nicht auf. Voigt hatte 1961 gegenüber David Irving bekundet, als Leiter einer „Abteilung Tote“ der Dresdner Vermißtenzentrale etwa 85.000 Bombentote registriert zu haben, und deren Gesamtzahl anhand gefundener Eheringe, nicht mehr ausgewerteter Mitteilungen und ähnlicher Nachweise  auf 135.000 geschätzt. Der Kommissionsbericht enthält nur einen lapidaren Hinweis auf den „Geschichtsfälscher“ Irving (obwohl kein einziger Fälschungsvorwurf Irvings Voigt-Protokoll betrifft).

Noch tendenziöser hatte 1965 Dresdens Oberbürgermeister Walter Weidauer die in der DDR verbreitete Opferzahl von 35.000 zementiert. In offenkundiger Argumentationsnot beschimpfte Kommunist Weidauer den beamteten Studienrat Voigt wegen dessen (unvermeidbarer) NSDAP-Mitgliedschaft als „übles faschistisches Subjekt“ und drängte den in der DDR lebenden früheren Militärarzt Max Funfack, der die im Februar 1945 organisierte Leichenverbrennungen auf dem Altmarkt beaufsichtigt hatte, zum Widerruf seiner dramatischen Aussagen.

Tendenziell bestätigt wurde Voigt durch den Augenzeugen Erich Puff, der auf unmenschliche Strapazen bei den Leichenverbrennungen und Bestattungen hinwies: Mehrfach seien „unbekannte Tote, einzelne Körperteile, auch Köpfe nicht gezählt“ worden. „Zuletzt wurde überhaupt nicht mehr gezählt ...“, berichtete Puff resigniert. 

Voigt hatte auch eine plausible Erklärung für Schätzungen im Bereich von 35.000. Die sowjetische Besatzungsmacht habe die erste Ziffer der von ihm protokollierten Zahl 135.000 weggestrichen, seine Karteikarten beschlagnahmt und überwiegend außer Landes geschafft. Handelte Stalin hier im Auftrag Churchills, der am 28. März 1945 in einem Memorandum an den Oberbefehlshaber der Royal Air Force ein Ende des Luftterrors angemahnt hatte und an spektakulären Opferzahlmeldungen nicht interessiert war?

Wolfgang Schaarschmidt vermutet nach alledem eine Gesamtopferzahl von 100.000 bis 150.000. Allerdings zitiert er in seiner Studie „Dresden 1945. Daten–Fakten–Opfer“ einen Funkspruch der Wehrmacht vom 24. März 1945, der Voigts Angaben nur teilweise stützt. Danach seien zwar 80.000 bis 100.000 Personen registriert worden, jedoch nicht als tot, sondern als vermißt. Etwa die Hälfte der bereits erteilten 20.000 Auskünfte enthalte eine „Totmeldung“. Hat Voigt bei seiner Befragung fünfzehn Jahre später Toten- und Vermißtenzahl verwechselt? Lassen sich aus seinem Register hochgerechnet also „nur“ 45.000 Tote herleiten? Bedarf obendrein seine Schätzung von 50.000 nicht registrierten Opfern der Absenkung? Alle diese Korrekturen ergäben aber noch eine Gesamtopferzahl von 50.000 bis 75.000 und damit das Zwei- bis Dreifache der von der Historikerkommission als „Worst Case“ beschriebenen Menge.

Diese letzte Schätzung nähert sich den (im Abschlußbericht unerwähnten) Beobachtungen des Augenzeugen und Kommissionsmitglieds Götz Bergander: „Wer die Zerstörung Dresdens miterlebt hat, dem erscheinen 35.000 Tote zu wenig. Dennoch akzeptiere ich die Möglichkeit, daß diese Zahl der Wahrheit am nächsten kommt, mag sie auch um einige tausend höher gewesen sein.“

Götz Bergander: Dresden im Luftkrieg. Vorgeschichte–Zerstörung–Folgen, Würzburg 1998

Rolf-Dieter Müller, Nicole Schönherr, Thomas Widera (Hrsg.): Die Zerstörung Dresdens. 13. bis 15. Februar 1945, Göttingen 2010

Wolfgang Schaarschmidt: Dresden 1945. Daten–Fakten–Opfer, Graz 2009

Björn Schumacher: Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg. „Morale Bombing“ im Visier von Völkerrecht, Moral und Erinnerungskultur, Graz 2008

Foto: Zwei Frauen gedenken am Totensonntag 1946 vor einer Dresdner Ruineden dort verschütteten Toten: „Zuletzt wurde überhaupt nicht mehr gezählt ...“, resümmierte ein an der Leichenverbrennung und Bestattung der Bombenopfer Beteiligter

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