© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/11 11. Februar 2011

Zukunft Europas
Zurück zum Kerngeschäft
Hans-Olaf Henkel

Das Konzept „Europa“ war von Anfang an mit zwei unterschiedlichen Zielrichtungen verknüpft, die als „Vertiefung“ und „Erweiterung“ bezeichnet wurden: Erstere meinte die Intensivierung der Beziehungen, die auf allmähliche Angleichung gerichtet ist, wie man sie von anderen Staatenbündnissen kennt, bei denen die Gemeinsamkeiten der Staaten deren Unterschiede überwiegen. „Erweiterung“ dagegen zielte schlicht auf eine Vergrößerung, also auf eine numerische Zunahme, die per se nicht mit sukzessiver Anpassung verknüpft ist, jedoch die Handels- und Kulturbeziehungen untereinander fördert.

Im Rückblick fällt mir auf, daß die europäischen Politiker beide Dimensionen gleichzeitig im Auge behielten und im Munde führten, sich aber über das Entscheidende nicht im klaren waren: Wenn man einen Politiker, gleich welcher Couleur, heute fragt, ob die EU zukünftig eher vertieft oder erweitert werden soll, setzt er vermutlich eine politisch korrekte Miene auf und sagt: „Selbstverständlich beides.“ Nach kurzem Nachdenken wird er hinzufügen, daß „offensichtlich die Vertiefung die Erweiterung voraussetzt, und daß es das eine nicht ohne das andere geben kann“.

Leider sitzt unser Politiker hier einem Denkfehler auf: Zwischen „Vertiefung“ und „Erweiterung“ besteht keine automatische Verbindung, im Gegenteil: Nehmen wir eine Wohnanlage, bei der immer neue Einheiten entstehen und immer neue Familien einziehen: Ohne Zweifel bringt diese Erweiterung der Wohngemeinschaft Vorteile, man trifft vielleicht interessante Leute, kann gemeinsame Probleme gemeinsam lösen. Doch käme wohl keiner auf die Idee, daraus eine automatische Vertiefung und Intensivierung der Beziehungen untereinander abzuleiten. Und mit dem Vorschlag, den Beitrag in die gemeinsame Kasse alljährlich zu erhöhen, würde man sich in der Anlage gewiß keine Freunde machen – eine solche Vertiefung dürfte sogar zum Auszug mancher Bewohner führen. Würde allerdings beschlossen, daß zukünftig die Hausgemeinschaft für die Schulden jedes einzelnen Mitbewohners aufkommen müßte, würden vermutlich die meisten ausziehen, und zwar schleunigst.

Die unsinnige Verknüpfung der beiden Vorstellungen Erweiterung und Vertiefung, die als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, bildete übrigens den Hintergrund des Lissabon-Vertrages, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Nötig geworden war er, weil die Entscheidungsprozesse der 27 Mitgliedsstaaten sich immer komplizierter gestaltet hatten – hätte die Gemeinschaft nur aus sechs Ländern bestanden, wäre es relativ einfach gewesen, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, wie es bei der EWG der Fall gewesen ist. Doch mit 27 Ländern war die Wahrscheinlichkeit relativ groß, daß mindestens eines sich querlegt und das ganze Projekt zum Stillstand bringt.

So kam man in Lissabon zur Einführung des Mehrheitsbeschlusses. Das war vernünftig – aber vor lauter Begeisterung über diese „Demokratisierung“ der EU übersah man einen entscheidenden Punkt: Man hatte erfolgreich erweitert, ohne ebenso erfolgreich zu vertiefen. Wie sich spätestens bei der Griechenlandkrise zeigte, waren die Bedingungen der Gemeinschaft, die in Maastricht festgelegt worden waren, dort gar nicht angekommen. Griechenland hatte sich in die Gemeinschaft aufnehmen lassen, ohne deren Vertragsbedingungen zu verinnerlichen. In Brüssel war man davon ausgegangen, dies geschehe ganz von selbst, weshalb man auch der Frage der Sanktionen keine gesteigerte Aufmerksamkeit widmete – man tut es bis heute nicht. Aber die Verinnerlichung der Vertragsmoral geschah nicht von selbst, sie blieb aus – übrigens nicht nur in Griechenland –, und keiner wollte es bemerken. Bis die Katastrophe eingetreten war.

Man hatte all die schönen Bedingungen von den Konvergenzkriterien bis zur No-Bail-out-Klausel aufgestellt, aber dafür, daß sie auch eingehalten wurden, hat man nicht gesorgt. Durch Lissabon war vielmehr die n, Vertragsbruch inklusive. Man hat die Gemeinschaft erweitert, aber mit dem Ergebnis, daß deren Existenzbedingungen nach Kassenlage abgeändert wurden und der Eid, den man sozusagen bei der Aufnahme in die EU geschworen hatte, zum leeren Ritual verkam.

Eine Vertiefung hat in Wahrheit niemals stattgefunden, und wenn der Eindruck erweckt wurde, dann geschah es just for show: Man glich sich einander an, aber nur kosmetisch, und man unterschrieb Verträge, aber mit Zaubertinte. Als gutes Beispiel für den verbreiteten Unwillen der gegenseitigen Angleichung läßt sich das Modell der deutschen betrieblichen Mitbestimmung heranziehen. Auf das paritätische Verhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern, das nur sie eingeführt haben, sind die Deutschen stolz.

Sie werden es auch in Zukunft sein können, denn die restlichen Europäer haben trotz EU und Lissabon gar nicht daran gedacht, die Mitbestimmung nach deutschem Recht zu übernehmen. Sie haben erkannt, daß es für ihre Wirtschaft besser ist, wenn man der Mitbestimmung der Arbeitnehmer enge Grenzen setzt, und damit der von Deutschland erhofften Vertiefung der EU eine klare Absage erteilt.

Bemerkenswert scheint mir die deutsche Reaktion: Obwohl unsere Politiker felsenfest von der Überlegenheit und demokratischen Legitimation des paritätischen Modells überzeugt sind, haben sie es einfach hingenommen, daß niemand in Europa es haben will. Wie oft hören wir im Gegenzug, daß andere Länder ihre speziellen Modelle europaweit durchsetzen, und kein deutscher Politiker käme auf die Idee, der jeweiligen Neuerung die Gefolgschaft zu verweigern – im Gegenteil, im Bundestag läßt sich dann etwas besonders leicht durchsetzen, wenn es in anderen europäischen Ländern bereits praktiziert wird.

Wir halten selbst dann still, wenn man uns „Reformen“ oktroyiert, auf die eine Mehrheit der Deutschen gern verzichten würde. Nehmen wir die Glühlampenverordnung, die von Brüssel aus Klimaschutzgründen durchgesetzt wurde. Man spart Strom und senkt angeblich den Kohlendioxidausstoß um Millionen Tonnen pro Jahr, und deshalb sind die alten Birnen mit dem angenehm warmen Licht nun verboten.

Man hätte noch viel mehr verbieten können, aber man will nicht alles auf einmal durchziehen – die Vertiefung der Energiesparmaßnahmen erfolgt etappenweise, gleichsam im Schongang. Aber sie kommt, und man kann sicher sein, daß die Deutschen alles abnicken und auch dafür bezahlen werden. (...)

Auch deshalb sage ich nein zur Vertiefung, weil sie sich mit der Realität nicht vereinbaren läßt und deshalb auch von niemandem beherzigt wird. Stattdessen verkommt sie zu einem reinen Lippenbekenntnis, bei dem der Ehrliche, der die Schönrednerei für bare Münze nimmt, das Nachsehen hat.

Damit bestreite ich nicht, daß Vertiefung möglich ist – allerdings nur dann, wenn sie mit Vertragsgewalt durchgesetzt wird, wobei unversehens ein zentralistischer Moloch entsteht, neben dem die einzelnen Mitglieder nur noch als Bittsteller und Befehlsempfänger erscheinen. Und davor sollte uns schon die Erfahrung der Geschichte bewahren. (...)

Die Gefahr, die eine Erweiterung mit sich bringt, solange die Probleme der Vertiefung nicht geklärt sind, läßt sich am Beispiel Rumänien ablesen. Es war Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac gewesen, der sich zusammen mit Gerhard Schröder nachdrücklich für eine Aufnahme des einstigen Ostblocklandes in die EU einsetzte. Wie aus einer Willkommensbotschaft hervorgeht, die er Rumänien und Bulgarien am 31. Dezember 2006 übersandte, war sein Einsatz nicht ganz selbstlos. „Im Namen Frankreichs und aller Franzosen“, schrieb Chirac, „möchte ich Sie in der EU willkommen heißen.“ Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, daß es sich hier nicht um eine lose Partnerschaft, sondern eine echte Vertiefung der Beziehungen handelte, betonte er, es sei „nur natürlich, daß Sie Ihrer Familie, Europa, beitreten“.

Und da man sich nun einmal in familiärer Weise nähergekommen war, konnte Chirac auch gleich die Katze aus dem Sack lassen: „Mit dem Beitritt Ihrer beiden Länder zur EU sind die Mitgliedstaaten der Frankophonie in der Mehrheit.“ Mit diesem ungewohnten Begriff, zu deutsch etwa „Französischsprachigkeit“, faßt Paris sämtliche Länder zusammen, in denen Französisch entweder gesprochen oder als Lehrsprache benutzt wird. Dahinter steht offenbar die Hoffnung, man könne auf diese Weise die Dominanz der Anglophonie, der verbreiteten Englischsprachigkeit, brechen. (...)

Überflüssig zu betonen, daß bei der Einführung des Euro oder besser gesagt: bei der Einführung gewisser Staaten in den Euro derselbe Fehler begangen wurde wie beim Willkommensgruß an die osteuropäischen Entwicklungsländer. Man wollte möglichst viele an Bord haben und übersah, daß nur wenige die Kraft zum Rudern mitbrachten, während die meisten gerne einstiegen und die schöne Aussicht genossen oder sich über den Proviant hermachten.

Deshalb sollte die EU sich von der Vertiefung um jeden Preis lossagen – ja, sie sogar teilweise zurückführen und stattdessen auf Erweiterung setzen. Wenn wir die EU auf ihr „Kerngeschäft“ beschränken, den europäischen Wirtschaftsraum, der einen Wettbewerb zwischen souveränen Staaten ermöglicht, dann können wir auch noch weitere Länder aufnehmen, ohne eine Schwächung der Gemeinschaft befürchten zu müssen; vor allem, ohne eine weitere Schwächung Deutschlands hinnehmen zu müssen, das unter der Vertiefung am meisten leidet.

Dagegen wird sich eine Erweiterung des Binnenmarkts um Länder wie die Ukraine, Weißrußland und natürlich auch Island nur positiv für uns auswirken. (...)

Auch wenn Brüssel es noch nicht zu bemerken vorgibt, steht die europäische Gemeinschaft heute vor einer klaren Alternative: Entweder verstehen wir uns als Transfergemeinschaft, in der alle das Geld aus einem gemeinsamen Topf beziehen und die meisten sich heimlich überlegen: Wie hole ich mehr heraus, als ich hineingebe? Oder wir entwickeln uns zu einer Gemeinschaft des fairen Wettbewerbs zwischen freien Partnern, wodurch schlagartig der Binnenmarkt und zugleich die globale Konkurrenzfähigkeit gestärkt würden. (...)

So würden die Probleme, die durch die Vertiefung entstanden sind, durch die Erweiterung gelöst. Wenn sich dann auch noch die Transferunion in eine Wettbewerbsgemeinschaft mit zwei Währungen verwandelt hat, könnten auch die Deutschen wieder Vertrauen in den neuen Euro gewinnen – und ein Europa schätzen lernen, das sich nicht länger als Krake von Brüssel, sondern als Europa der Vaterländer versteht.

 

Prof. Dr. Hans-Olaf Henkel, Jahrgang 1940, Volkswirt, war Chef der IBM Deutschland, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und der Leibniz-Gemeinschaft. Heute lehrt er als Honorarprofessor an der Universität Mannheim.

Hans-Olaf Henkel: Rettet unser Geld! Deutschland wird ausverkauft – Wie der Euro-Betrug unseren Wohlstand gefährdet, Heyne Verlag, München 2010. Auszüge aus dem Buch werden hier mit freundlicher Genehmigung des Autors abgedruckt.

Foto: Sackgasse EU: Der fortschreitende Integrationsprozeß unterhöhlt die Nationalstaaten Europas

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