© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/11 11. Februar 2011

Zeitschriftenkritik: „Zeit Geschichte“ – Das Deutsche Kaiserreich
Seinerzeit zur Kaiserzeit
Marcus Schmidt

Wilhelm II. hatte schon einmal eine schlechtere Presse. Galt er in den vergangenen Jahrzehnten selbst unter Konservativen vielfach als hoffnungsloser Fall, der mit seiner Großmannssucht Deutschland leichtfertig in den Ersten Weltkrieg geführt habe, so ist dieses Schwarzweißbild heute oftmals einer wesentlich differenzierteren Betrachtungsweise gewichen.

Immer stärker hat sich der Blick dafür geschärft, daß Deutschland in den Jahrzehnten vor der Katastrophe des Weltkrieges ein überaus dynamischer Staat war, der weltweit auf zahlreichen Gebieten in Wissenschaft, Kunst und Kultur den Ton angegeben hat. Daß gerade auch der Hohenzollernkaiser, der vielfach interessiert und technikbegeistert war, einen nicht unwesentlichen Anteil an der Dynamik des Kaiserreiches hatte, haben in den vergangenen Jahren Historiker wie Christopher Clark oder Eberhard Straub eindrucksvoll herausgestellt.

Den Beiträgen der vorliegenden Ausgabe von Zeit Geschichte aus dem Hause der Wochenzeitung Die Zeit über das Kaiserreich merkt man denn auch die Spannung zwischen den überkommenen linken Anschauungen vom angeblich verknöcherten und gestrigen Hohenzollernreich und den neueren Forschungsergebnissen an. Und so ganz können sich die Macher des Heftes aus diesem Dilemma nicht befreien. „Das Land Bismarcks und später Wilhelms II. war heutig und gestrig zugleich“, schreibt Chefredakteur Christian Staas fast trotzig. Der historisch interessierte Leser fragt sich indes: Für welche Epoche gilt das nicht?

Das vorliegende Heft müht sich ansonsten nach Kräften, die vermeintlich dunklen Seiten des Kaiserreiches hervorzuheben. So darf natürlich unter der Überschrift „Aufräumen, aufhängen, niederknallen“ ein Beitrag über die Niederschlagung des Hereroaufstands in Deutsch-Südwestafrika nicht fehlen. Der Kolonialkrieg gilt linken Historikern schließlich seit Jahren als Vorläufer des Holocaust. Staas kommt in seinem Beitrag zu dem „differenzierten“ Ergebnis, daß der Krieg gegen die Hereros nicht „der“, sondern „ein“ Weg nach Auschwitz gewesen sei.

Da paßt das Interview mit dem jungen Historiker Stephan Malinowski ins Bild, der in dieselbe Kerbe schlägt und mit Blick auf das „Dritte Reich“ zu dem Ergebnis kommt, der Führerkult sei aus dem Geist des Wilhelminismus geboren worden.

Und auch in der Kriegsschuldfrage liefert das Heft Erwartbares. Der Historiker Volker R. Berghahn darf sich in einem Beitrag über die Julikrise 1914 über die Schuld des Kaiserreiches auslassen. Eine kritische Würdigung des internationalen Kräftesystems der Vorkriegszeit, ohne die der Sommer 1914 nicht zu erklären ist, sucht der Leser dagegen vergeblich.

Wer über diese Zeit-typischen Sonderheiten hinwegsieht und sich für die Epoche des zweiten deutschen Kaiserreiches interessiert, findet ansonsten zahlreiche interessante und mit vielen Bildern illustrierte Beiträge, die die Atmosphäre dieser strahlenden Epoche der deutschen Geschichte treffend einfangen.

Kontakt: Zeitverlag Gerd Bucerius, Buceriusstraße, 20095 Hamburg. Das Heft kostet 5,50 Euro. www.zeit.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen