© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/11 11. Februar 2011

Auge in Auge mit dem Nichts
Film satt: An diesem Donnerstag beginnt die Berlinale / Retrospektive zu Ingmar Bergman
Martin Lichtmesz

Ein großes weißes „B“ wie „Berlinale“ vor einem roten Strahlenkranz wirbt dieses Jahr für die 61. Internationalen Filmfestspiele von Berlin. Für jene Sorte Kinoliebhaber, die sich weniger für die roten Teppiche interessiert, verweist der Initialbuchstabe aber vor allem verheißungsvoll auf Bergman, Ing-mar Bergman, dem diesmal die traditionelle Retrospektive gewidmet ist.

Als der schwedische Film- und Theaterregisseur 2007 im Alter von 89 Jahren starb, ging mit ihm nicht nur eine Ära des europäischen Autorenfilms zu Ende, sondern auch ein ganzes Jahrhundert der ideologischen und ästhetischen Umwälzungen. Heute sind die Erschütterungen, die Bergmans Werk ab Mitte der fünfziger Jahre auch in Deutschland auslöste, kaum mehr vorstellbar. Sein Heimatland Schweden führt ihn immer noch als einen seiner wichtigsten kulturellen Exportartikel, bezeichnenderweise neben eher problemlosen Dingen wie Ikea, Knäckebrot und Abba.

Die inneren Kämpfe um den Glauben und den Sinn des Lebens, das Ringen mit den Tiefen der eigenen Seele, die für Bergmans Protagonisten so entscheidend und qualvoll waren, sind scheinbar ausgefochten und vorbei. Frei nach Gottfried Benn haben „Wollwesten und Streuselkuchen“ gesiegt. Im postprotestantischen „Gleichstellungs-Schweden“ herrschen heute sozialdemokratische Mittelmaß-Idylle, materieller Wohlstand sowie eine besonders garstig fortgeschrittene „political correctness“ als Religionsersatz. Doch ist all dies am Ende nicht mehr als eine morphiumartige Tünche über jenen ewigen Abgründen, die Bergman wie kein anderer ausgeleuchtet und dargestellt hat?

Als Sohn eines Pastors hatte der 1918 in Uppsala geborene Künstler seine Kindheit noch quasi im ausgehenden 19. Jahrhundert verbracht. Die letzten Dinge waren in Bergmans Elternhaus ständig präsent: die Sünde, der Tod, die Angst vor einem unerbittlich strafenden Gott. Der Abschied von der Religion folgte für Bergman unter großen inneren Konflikten und im Spiegel des Existentialismus der Nachkriegszeit. Das „Schweigen Gottes“ angesichts des menschlichen Leides wurde zu einem seiner zentralen Themen, ob in der Allegorie eines mittelalterlichen Mysterienspiels („Das siebente Siegel“, 1957) oder als karges modernistisches Drama („Wie in einem Spiegel“, 1960).

Anfang der sechziger Jahre schrieb ihm sein Vater einen tief bewegten Brief: sein Film „Licht im Winter“ (1961), in dem ein an seinem Glauben verzweifelnder Pfarrer im Mittelpunkt steht, handele von nichts anderem als von den ewigen Dingen, von denen er seit Jahrzehnten von der Kanzel spreche, und er, sein Sohn, werde die Menschen gründlicher erreichen, als der Vater es jemals vermocht hat.

Der alte, konservative Pastor Bergman hatte das Werk seines Sohnes besser verstanden als jene westdeutschen Politiker, die 1963 ein Verbot seines Filmes „Das Schweigen“ anstrengten. Wegen  seiner expliziten Sexualdarstellungen sei dieser „pornographisch“ und „entwürdige“ das Bild des Menschen. Der Skandal um den Film und seine letztliche Freigabe ohne Schnitte beförderte die damals auf ihrem Zenit stehende „Bergmania“ nachhaltig und führte zu Rekordbesucherzahlen.

Aber Bergmans Werk hatte letztlich nichts mit den Sexfilmchen gemein, die in der Folge als „schwedische Sünde“ die westlichen Leinwände überfluteten, noch war es abhängig von Tabubrüchen. Nicht nur Gott, Tod und Teufel, die „Krankheit zum Tode“ und der Mensch, der Auge in Auge mit dem Nichts stand, waren Themen seiner Kunst, sondern die Fülle der menschlichen Erfahrung überhaupt. Darin war auch Platz für Spiel, Erotik, Humor, das Leben als großes Welttheater, verzaubert durch die Magie der darstellenden Künste. 1958 schrieb François Truffaut: „Mit seinen Filmen, deren Einfachheit uns immer von neuem überrascht, betrifft Ingmar Bergman die größtmögliche Zahl von Zuschauern in einer größtmöglichen Zahl von Ländern.(...) Jeder, der auf die Welt gekommen ist und lebt, kann sie verstehen.“

Das war nur ein wenig übertrieben: seine Meisterwerke begeisterten weltweit Kritiker, Cinephile und das Publikum gleichermaßen. In den sechziger Jahren wurden Bergmans Filme zunehmend düsterer, aber auch formal kühner, radikaler, experimenteller, was ihre universelle Zugänglichkeit jedoch beträchtlich einschränkte. Erst mit dem für seine Farbkompositionen berühmten Drama „Schreie und Flüstern“ (1972) und dem TV-Straßenfeger „Szenen einer Ehe“ (1973) stellte sich der Erfolg wieder ein. Abschied vom Kinofilm nahm Bergman 1982 mit seinem dreistündigen Epos „Fanny und Alexander“, in dem er semiautobiographisch auf seine Kindheit zurückblickte. Privat zurückgezogen in sein Haus auf der Insel Fårö, drehte er noch bis 2003 eine nicht enden wollende Reihe von „letzten Werken“ für das Fernsehen.

Wenn auch der Großteil von Bergmans Filmen inzwischen als DVD erhältlich ist, sollte man nicht die einmalige Gelegenheit verpassen, sie nun im Rahmen der Berlinale auf der großen Leinwand wiederzusehen, auf der ihre Wirkung unvergleichlich intensiver ist als auf dem Bildschirm. Man wird ein Werk entdecken, das völlig zu Recht zu den unbestrittenen Höhepunkten der Filmkunst des letzten Jahrhunderts gezählt wird. Der Mensch und das menschliche Gesicht als Landschaft der Seele stehen in ihm im Vordergrund. Bergman war nie ein Mann der Kameramätzchen und der ausgestellten Virtuosität. Seine Filme waren immer auch das Produkt einer intensiven Zusammenarbeit mit einem ihm über Jahrzehnte treu ergebenen Schauspielerensemble. Ihre Namen sind Filmfreunden auf der ganzen Welt ein Begriff: Max von Sydow, Liv Ullmann, Bibi Andersson, Erland Josephson, Ingrid Thulin oder Gunnar Björnstrand, die allesamt wohl nie schöner, würdevoller und menschlich ergreifender zu sehen waren als bei Bergman.

Parallel zur Retrospektive lohnt sich ein Besuch der Ausstellung „Von Lüge und Wahrheit“ im Filmmuseum der Deutschen Kinemathek am Potsdamer Platz, das eine materialreiche Sammlung von Exponaten aus dem Nachlaß des Regisseurs präsentiert und faszinierende Einblicke in sein Leben und seine Arbeitsweise gewährt.

www.berlinale.de

www.filmmuseum-berlin.de

Foto: Ingmar Bergman mit seiner fünften Ehefrau Ingrid während der Dreharbeiten zu „Herbstsonate“ (1978): Leben als großes Welttheater

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