© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/11 04. Februar 2011

Der Flaneur
Nora aus Berlin
von Josef Gottfried

An einem kalten und sonnigen Samstagvormittag gehen wir durch Leipzig, Nora und ich, vom Hauptbahnhof, über den Markt und durch die Thomasgasse, dann zum Augustusplatz. Alles sehr gut hier, die Stadt beeindruckt mich. Sie ist so sauber, fein und aufwendig saniert – jedenfalls zwischen Hauptbahnhof und Neuem Rathaus.

Es sind aber wenig Menschen unterwegs. Ich wundere mich über all diese Leipziger, die scheinbar kein Interesse an ihrem Zentrum haben. Als ich Nora davon erzähle, schaut sie mich an und meint, daß das in ihrer Heimat Berlin nicht passieren würde. „Ja“, sage ich dann, deshalb sei es auch so schön in Leipzig. „Wieso?“ fragt sie, „ich mag die Massen.“ – „Ja?!“ – „Ja.“ Ich bin überrascht und schaue sie an, sie schaut zurück, das geht vielleicht zwei oder drei Sekunden so.

Sie ist groß, hübsch, blaß, keine 22, ihre ungeschminkten Lider geben ihrem Gesicht einen müden Ausdruck, die Oberlippe ist fast immer ein wenig geschürzt und die Augenbrauen sind fast immer ein wenig gerunzelt. So scheint sie, das Kinn leicht angehoben, die meiste Zeit des Tages melancholisch und angewidert auf diese Welt zu blicken. Ihre bunten Turnschuhe sind abgetragen, ihr Zopf sieht wie zufällig gebunden aus, unter dieser schwarzen Mütze mit kurzem Schirm – so eine, wie man sie heutzutage trägt. Das steht ihr gut, sie ist schön anzuschauen.

Wir erreichen den Leipziger Campus und gehen in der Mensa essen. „Und die Metropole magst du auch?“ frage ich. „Berlin?“ – „Zum Beispiel.“ – „Das ist meine Heimat“, sagt sie, kneift das linke Auge zusammen, zieht die rechte Braue hoch und schaut mich an. Ich schaue auf den Teller und schneide das Fett von meinem Braten. Obwohl es Samstag ist, schnattert und plaudert es an all den Tischen um uns herum.

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