© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/11 04. Februar 2011

Dem Untergang geweiht
Stolz und Demut, Pracht und Verfall: Chris Kraus’ Meisterwerk „Poll“
Ellen Kositza

Dieser Film ist eine Wucht! Geschmacksurteile zunächst beiseite gelassen: Allein aufgrund seiner handwerklich-ästhetischen Brillanz hält „Poll“ einem Vergleich mit Michael Hanekes international hochgelobter deutscher Kindergeschichte „Das weiße Band“ stand.

Wie Hanekes Film spielt „Poll“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die 14jährige Oda kehrt nach Jahren in Berlin zum Gut Poll an die baltische Ostseeküste zurück. Hier lebt ihr Vater in einem bizarren Herrenhaus, einer prächtigen, doch im Verfall begriffenen Villa, auf dutzenden Holzstützen in der Meeresbrandung errichtet. Ebbo von Siering (grandios: Edgar Selge als optisches Knut-Hamsun-Abbild) ist ein Pionier der Hirnforschung, dessen Erkenntnisse von der akademischen Zunft jedoch mißachtet werden.

Es ist Wendezeit, Revolution liegt in der Luft. Mit den zaristischen Truppen kommt man auf Poll gut aus. Die Russen, steife, teils cholerische Männer, verkehren als Gäste im Hause. Es gibt ein informelles Abkommen: Wenn sie wieder einmal einer der Anarchistengruppen, die im Landstrich ihr Unwesen treiben, den Garaus gemacht haben, werden die Leichname ins Labor von Sierings überführt. Dort unterhält der Wissenschaftler bereits ein umfängliches Kuriositätenkabinett. Er ist sich sicher, jene Hirnregion entdeckt zu haben, wo beim Menschen – beim Verbrecher allein! – das Böse zu lokalisieren ist.

Von Siering liebt seine einzelgängerische Tochter innig; auch für ihren Wissensdrang und die Unerschrockenheit, mit der sie seinen Studien folgt: „Wie schade nur, daß Frauen nicht Arzt werden können!“ Aus Oda spricht tiefer Ernst, als sie entgegnet: „Ich werde keine Frau.“ Mit den Freizeitvergnügungen der Damen und Mädchen auf Poll hat sie nichts im Sinn, ebensowenig mit den Avancen des ungeschickt anbändelnden Kadetten Paul. Oda seziert tote Katzen und lernt sie zu vernähen, sie malt und schreibt ihr Tagebüchlein voll. Dichterin wäre sie gern!

Als sie beim Stromern in den halbruinösen Prachtbauten des Guts einen verletzten estnischen Anarchisten findet, versteckt sie ihn vor den Gutsbewohnern und pflegt ihn. Er spricht Deutsch, haßt die Deutschen wie auch die russischen Besatzer leidenschaftlich– und er ist Lyriker, ein Proletendichter.

Nach seiner Genesung will er fliehen, und Oda, das zügellose Kind, mit ihm. Mit Kriegsbeginn spitzt sich die Lage auf Gut Poll dramatisch zu. Es ist, als nähme der Flächenbrand, der Europa überziehen wird, hier seinen Ausgang …

Was für ein Film! Diese Bildergewalt, dieses Licht! Diese Symbolsprache, die sich – ohne sich in Platitüden zu verheddern – als roter Faden durch die Sequenzen zieht und als expressionistisches Anwehen alle Lebensgegensätze zur Sprache bringt, Stolz und Demut, Pracht und Verfall, Licht und Finsternis. Hervorzuheben ist die Arbeit der Szenenbildnerin Silke Buhr, die bereits für „Das Leben der Anderen“ mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Über Paula Beer, die Oda darstellt, heißt es im Presseheft, die 14jährige trete „in die Fußstapfen von Hannah Herzsprung“ und liefere eine „ähnlich eindringliche Performance“ wie Herzsprung in „Vier Minuten“, jenem pathetisch überladenen Kinodrama von 2006.

Nein, genau das tut Paula Beer nicht – zum großen Glück! Die musikbesessene Gefängnisinsassin, die Herzsprung darstellte, war in ihrer hysterischen Raserei ein Zerrbild, eine Kitschversion des Topos „verkanntes Genie“. Wie traumhaft schillert hingegen Oda im Film – und das ganze übrige Personal steht ihr in nichts nach. Niemand ist ganz der, der er zu sein scheint: Die tapfere Oda ist andererseits kalt und verlogen, die sensible, hellsichtige Gutsherrin Milla neurotisch und modesüchtig, der obskure Verwalter Mechmershausen (Richy Müller) zeigt sich letztlich als skrupulöse Gestalt, der aufgeklärte Geist des Ebbo von Siering offenbart finsterste Abgründe genau wie der romantische Proletenkult des Anarchisten, und die tumben Russen lassen ihr subalternes Verhalten pünktlich zum 1. August 1914 fallen wie eine Maske.

Regisseur Chris Kraus hat erst während seines Germanistikstudiums erfahren, daß die einst bedeutende Lyrikerin Oda Schaefer (1900–1988, ab 1934 in zweiter Ehe mit dem großartigen Schriftsteller Horst Lange verheiratet) seine Großtante war. Die historische Authentizität des sich „lose“ an Schaefers Memoiren anlehnenden Films (Odas Vater Eberhard Kraus lebte als Autor in Berlin) einmal außen vor gelassen: Chris Kraus’ Vermutung, seine eigene Familie habe ihm Oda Schaefers Existenz verschwiegen, weil sie als „Linksintellektuelle“ oder gar Kommunistin galt, ist zumindest zweifelhaft. Als Mitglieder der Reichsschrifttumskammer wäre das Schriftstellerehepaar Lange (ihren Namen aus kurzer erster Ehe hielt Schaefer als Künstlernamen) allenfalls der Inneren Emigration zuzurechnen. In der Nachkriegszeit standen sie der „Kahlschlagliteratur“ der linksdominierten Gruppe 47 skeptisch gegenüber.

Auch die Klage im Abspann, Oda Schaefer sei heute vollends vergessen und keines ihrer Werke mehr erhältlich, bedarf einer Korrektur: Der Thüringer Verlag Arnshaugk hält einige Bücher von Oda Schaefer vor und hat zudem ihr lyrisches Gesamtwerk ediert. Vor wenigen Jahren ist zudem eine wissenschaftliche Monographie über die Dichterin erschienen, und nicht zuletzt hat der Künstler Uwe Nolte („Orplid“) Schaefers Poesie kongenial vertont (JF 39/06). Daß Oda Schaefer nun auf diese Weise einem großen Publikum in Erinnerung gerufen wird, kann man kaum hinreichend loben. Ansehen!

Foto: Gut Poll an der estnischen Ostseeküste am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Revolution liegt in der Luft

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen