© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/11 28. Januar 2011

Allmacht von Elektrizität und Chemie
Vor hundert Jahren erschienen wissenschaftlich-technische Prognosen mit beeindruckender Trefferquote
Michael Manns

Die Bürger der drahtlosen Zeit werden überall mit ihrem ‘Empfänger‘ herumgehen, der irgendwo, im Hut oder anderswo angebracht und auf eine der Myriaden von Vibrationen eingestellt sein wird, mit der er gerade Verbindung sucht. Einerlei, wo er auch sein wird, er wird bloß den Stimm-Zeiger auf die betreffende Nummer einzustellen brauchen.“ Der altfränkisch formulierte Text beschreibt eine Facette der modernen Kommunikation, die für uns selbstverständlich ist. Geht es doch offensichtlich um mobiles Telefonieren und die Internetgesellschaft. Aufregend ist, wann das aufgeschrieben wurde: Vor hundert Jahren!

Damals erschien in Deutschland ein Buch mit dem Titel: „Die Welt in 100 Jahren“. Die Beiträge versuchten, in die Lostrommel der Zukunft zu greifen. Anders als in literarischen Utopien jener Zeit schrieben Experten und Wissenschaftler über Trends und Visionen in verschiedenen Bereichen. Dem einflußreichen Journalisten Arthur Brehmer (1858–1923) gelang es, prominente Autoren zu gewinnen, ihre Prognosen waren teilweise recht treffsicher. Das Sachbuch, damals ein Verkaufsschlager, wurde kürzlich als Reprint wieder herausgegeben, komplettiert mit einer sorgfältigen Einleitung.

Die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg war eine sehr bewegte Zeit: Die Erfindung des Automobils war nur ein Vierteljahrhundert her, die Entdeckung von Röntgenstrahlung und Radioaktivität lag 15 bzw. 14 Jahre zurück, der erfolgreiche erste Motorflug der Gebrüder Wright erst sieben Jahre. Neue Kraftquellen werden gleich im ersten Beitrag gefordert: Es gebe ein Problem, „welches der Mensch bald zu lösen genötigt sein wird; denn von dessen Lösung hängt die Möglichkeit eines andauernden menschlichen Fortschritts und einer fortschreitenden Zivilisation vollständig ab. Wir müssen einen Vorrat von Wärme und Kraft haben, sowohl unerschöpflich in der Quantität, als auch billig in der Gewinnung.“ Die Kohle könne das nicht leisten: Bei dem jetzigen Verbrauch werde sie binnen weniger Generationen aufgebraucht sein.

Mögliche Klimaprobleme wurden auch schon thematisiert: „Aber nicht die Gefahr des Kohlenmangels allein droht uns, wir werden auch unsere Luft dabei völlig verbrannt haben; denn jede Tonne Kohle, die von uns verbraucht wird, macht zwölf Tonnen Luft zum Atmen untauglich.“ Die Solarenergie tauchte auch schon auf: „Möglicherweise erfinden wir eine Art von Motor, der die Wärme nutzbar machen kann, die von den Sonnenstrahlen ausgeht.“

Die Bedeutung des Erdöls wurde nicht prognostiziert, aber die Zukunftsforscher hatten ein Gespür für die Bedeutung des Atoms und die gigantischen Kräfte, die in ihm zusammengeballt sind: „Jedes Molekül der Materie ist aus einer großen Anzahl kleiner Partikelchen zusammengesetzt, die wir Atome nennen … in jedem Pfund wägbarer Substanz ist eine Kraftmenge vorhanden, die genügen würde, ein einpfündiges Projektil mit einer Geschwindigkeit von 100.000 englischen Meilen in der Sekunde hinausschleudern zu können.“ Diese Kraftmenge sollte knapp 35 Jahre später dann entfesselt werden.

Alles wird besser – so ist der Tenor der meisten der 23 Beiträge. Ein Autor glaubt fest an die Allmacht von Elektrizität und Chemie: „Es wird elektrisch geheizte Treibhäuser geben, die Tausende von Äckern bedecken, und die Landgüter werden ihre Sommer- und Winterernten haben. In Gärten wird es Johannisbeeren geben, so groß wie Pflaumen, Pflaumen so groß wie Äpfel! Erdbeeren so groß wie Orangen.“

Von einem „Jahrhundert des Radiums“ schwärmt ein weiterer Essay. Das radioaktive Element war 1898 von dem Ehepaar Curie entdeckt worden. An die geheimnisvolle Strahlung sollten sich wilde Phantasien knüpfen. Sie galt als gesundheitsfördernd, sollte per Inhalation Bazillen im menschlichen Körper abtöten, bis man ihre Gefährlichkeit entdeckte. Noch bis in die dreißiger Jahre wurden Kosmetika und Genußmittel beworben, die Radium enthielten.

Gebäude sollten mit radioaktiven Anstrichen überzogen werden, um von selbst zu leuchten und elektrische Lampen überflüssig zu machen. Und so ganz nebenbei könnte das Element dabei auch noch seine „wohltätige Heilwirkung“ auf die Bewohner ausüben. Schließlich sei Radium – und da stimmen andere Autoren zu – ein unfehlbares Mittel gegen Krebs, gegen Tuberkulose und sogar gegen Blindheit. Ein Zeitalter völliger Krankheitslosigkeit stehe unmittelbar bevor und mit ihm die Vollendung des Menschengeschlechts: hochgewachsen, schön, gesund, ewig jung.

Die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner sieht eine friedliche und harmonische Welt kommen. Statt das Recht des Stärkeren herrscht in der Gesellschaft gegenseitige Hilfe. Bis das erreicht sei, werde die Welt geprägt von einer Art „Gleichgewicht des Schreckens“, wie er die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich beherrschen sollte. Denn es werde unmöglich, Kriege zu führen. „Wir sind im Besitz von so gewaltigen Vernichtungskräften, daß jeder von zwei Gegnern geführte Kampf nur Doppelselbstmord wäre. Wenn man mit dem Druck auf einen Knopf, auf jede beliebige Distanz hin, jede beliebige Menschen- oder Häusermasse pulverisieren kann, so weiß ich nicht, nach welchen taktischen und strategischen Regeln man noch ein Völkerduell austragen könnte.“

Eine düstere Vision findet sich in dem Beitrag „Die Frau in hundert Jahren“. Hier wird der Gedanke der Menschenzüchtung propagiert: „Säuglinge werden in den kommenden Kinderheimen eine Stunde nach der Geburt abgegeben, dort ernährt und gekleidet. Die Kinder werden in der Weise produziert, daß sich Freiwillige – aus sozialem Eifer – für diese Arbeit melden. Unter ihnen wird durch ein ärztliches Komitee die nötige Anzahl ausgewählt.“ Und es kommt noch deutlicher: „Von dieser Anzahl werden wieder die füreinander Geeignetsten zusammengeführt. Das große Problem der Naturwissenschaft ist die Entdeckung des Mittels, die Menschheit ohne Elternschaft fortzupflanzen, dieses der Menschen unwürdigen Mittels, das die Natur in der Eile zusammengepfuscht hat, aber das die fortschreitende Kultur entbehrlich machen muß.“

Werden die Eltern überflüssig, dann im nächsten Schritt auch die naturhafte Differenz zwischen Mann und Frau: „Der männliche und der weibliche Typus sind in so hohem Grade verschmolzen, daß der Blick nur durch gewisse Verschiedenheiten der Kleidung die Geschlechter unterscheiden kann“. Vollends irritierend dann die Prognose über die Entwicklung des Parlamentarismus: „Nach beendetem schulpflichtigem Alter treten alle ins Parlament ein, auch die Idioten, als eine unbestreitbare Folge der Humanität und der Menschenrechte.“

Arthur Brehmer (Hrsg.): Die Welt in 100 Jahren. Mit einer Einführung von Georg Ruppelt. Georg Olms Verlag, Hildesheim  2010, 319 Seiten, 19,80 Euro

Foto: Illustrationen aus „Die Welt in 100 Jahren“: Fernsehübertragung auf Großbildschirm (l.)  und weltweite drahtlose Telefonie vorhergesehen

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