© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/11 28. Januar 2011

Nonkonforme Themen immer beliebter
Wie Thilo Sarrazins Buch unsere Medien verändert hat
Lion Edler

Die Bilanz, die Thilo Sarrazin zu Weihnachten in der FAZ über die Diskussion um sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ gezogen hat, war eher ernüchternd. Zwar sei „manches starke Wort der letzten vier Monate“ ohne ihn wohl ungesagt geblieben, doch über Worte sei es „bislang eben nicht hinausgegangen“. Für ein Resümee sei es jedoch noch zu früh.

Vielleicht aber muß die Debatte um sein Buch ja in einer anderen Funktion gesehen werden, nämlich als Türöffner für ein sich allmählich änderndes mediales Klima, das früher oder später automatisch auch politische Veränderungen befördern wird. Robert Misik jedenfalls schlug in der linken taz schon im Dezember Alarm. In den letzten zwanzig Jahren, so Misik, hätten „Populisten“ in Deutschland nicht Fuß fassen können, „weil die Immunreaktion der politischen und medialen Öffentlichkeit funktioniert hat. Die Sarrazin-Debatte hat gezeigt, daß das vorbei ist.“

Tatsächlich spricht einiges dafür, daß nonkonforme Themen durch Sarrazin medial beliebter werden. Zum Beispiel: die Schattenseiten der Integration. So findet sich auf der Netzseite des Focus über die Suchfunktion bis zu Sarrazins Buchveröffentlichung kein einziges Ergebnis für das Stichwort „Deutschenfeindlichkeit“ im Zusammenhang mit Integration, nach der Sarrazin-Debatte dagegen sechs.

Im Oktober befaßte sich auch die Fernsehsendung Stern TV mit dem heißen Eisen. Der Sender erhielt schon vor der Ausstrahlung 4.278 Zuschriften zum Thema, was man wohl als deutliches Indiz dafür ansehen kann, daß das Magazin ein Fenster geöffnet hatte. Auch hinterher riß die Leserpost nicht ab.

Damit nicht genug: In der ARD widmete Reinhold Beckmann im Dezember  eine ganze Sendung nur diesem sensiblen Thema – kaum vorstellbar, daß dies ohne Sarrazin möglich gewesen wäre. Zumal auch die Auswahl der Gäste eine 180-Grad-Wende zur üblichen Kuschelrunde bedeutete: Bundesfamilienministerin Kristina Köhler (CDU) diskutierte mit Heinz Buschkowsky (SPD), Bürgermeister des Berliner Stadtteils Neukölln, beide keine Weichzeichner der Integrationsprobleme.

Am 9. November 2010, pikanterweise am Tag des Mauerfalls, räumte die Süddeutsche Zeitung die Seite 3 für den Artikel „Die Schweinefleischfresser“ frei. Von einem Lehrer ist dort die Rede, der entlassen wird, wenige Tage nachdem er bei einer Versammlung mit Eltern Klartext über den Zustand seiner Schule geredet hat. Von einer 88jährigen Witwe, die von einem türkischen Jungen als „alte Nazi-F...“ beschimpft und angeschrieen wurde, weil sie ihn ermahnt hatte, nicht auf den Boden zu spucken.

Selbst die bittersten Trutzburgen des Zeitgeistes sind nicht mehr sicher: taz-Leser staunten nicht schlecht, als das linke Wohlfühl-Blatt am 6. Dezember einen Aufsatz des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz mit dem Titel „Linke Lebenslügen“ veröffentlichte. Bolz rechnete dort mit den „drei dogmatischen Mythen der deutschen Linken in Sachen Einwanderung“ ab und beklagte, daß Linke ein Bekenntnis zu Deutschland „nicht erwarten, ja geradezu verabscheuen“. Dies liege „an ihrem pathologischen Verhältnis zum Patriotismus. Gerade hinter ostentativer Ausländerfreundlichkeit versteckt sich oft nichts anderes als Deutschenhaß.“ Es folgte ein Sturm der Entrüstung in der Kommentarspalte. Ein Leser war besonders empört: „Bravo, taz! Mit solchen Artikeln benötigt Deutschland keine weiteren faschistischen Parteien mehr.“

Doch nicht nur bei der Integrationspolitik scheint ein Dammbruch im Gange. Seit der Sarrazin-Kontroverse reden mehrere etablierte Medien plötzlich eine neue Partei rechts der Union geradezu herbei. Auch hier spuckt die Suchfunktion des Focus für die Zeit vor dem Sarrazin-Buch keinen Artikel mit dem Begriff „Rechtspartei“ aus, der sich nicht auf das randständige Spektrum und auf Deutschland bezieht – nach dem Sarrazin-Buch aber finden sich acht Ergebnisse. Anfang des Jahres brachte der Spiegel gar ein siebenseitiges, faires Portrait über die Partei „Die Freiheit“ des ehemaligen CDU-Politikers René Stadtkewitz.

„Kommt was von rechts?“ fragte auch die linke Zeit bereits am 16. September 2010 auf ihrer Titelseite. In der nächsten Ausgabe des Focus setzte Michael Klonovsky noch eins drauf und präsentierte gleich ein Kurzprogramm für eine rechtskonservative Partei. Klonovsky ließ es sich nicht nehmen, seinen Aufsatz mit einem Zitat des Historikers Joachim Fest zu beenden: „Die Wirklichkeit ist immer rechts.“ Vielleicht hat Sarrazin ja einen Beitrag dazu geleistet, daß diese Wirklichkeit sich allmählich auch wieder stärker medial widerspiegelt.

Foto: Sarrazin-Revolution: Plötzlich  berichten die Medien über Dinge, die sie früher stets ausgeblendet haben

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