© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

Der Flaneur
Der kommende Aufstand
Josef Gottfried

Natürlich kann ich meinen Atem sehen, es ist immer noch Winter. Aber heute früh werfen die Laternen ein ganz besonderes Licht auf meinen Dampf gewordenen Hauch. Diese Wärme vermittelt mir nach jedem Atemzug ein Gefühl des Ausmaßes meiner biologischen Energie, die zur Macht werden könnte, gleich welcher Natur, wenn ich sie nur kanalisierte, vermehrte, freigäbe. Wie sehr müßte sich diese Macht schon in einer kleinen Gruppe potenzieren? Zwei von hundert heißt zwanzigtausend von einer Million.

Wir leben in Zeiten dramatischer Lagebeschreibungen, die Klugen beklagen das Übliche: Vereinzelung, Entortung und Entfremdung der Arbeit,  die Totalität von Metropole, Wirtschaft und Ökologismus sowie den Relativismus. Je mehr sie daran leiden, an Teilen der Welt also, desto mehr werden sich die Klugen dieser sieben Kreise gewahr, desto weniger können sie das sehen, was vielleicht noch gut ist, bleibt oder wird. Sie hadern, und wenn sie jung sind, grämen sie sich so lang, bis sie den Aufstand wünschen. Gegen was? Den Staat natürlich.

„Im Gehirn meldet sich Udo Jürgens: Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh’n.“

Auch wenn ich ihn fürchte, den Aufstand, so zieht mich der Gedanke doch an. Wo sonst könnte ich meine biologische Energie besser potenzieren, als in einem wochenlangen Kampf gegen den Staat. Wie sonst könnte ich freier sein? Derweil fährt der Winterdienst an mir vorbei und ich passiere die S-Bahn, welche die umliegenden Dörfer mit München verbindet. Dann bleibe ich abrupt vor einem kleinen Umspannwerk stehen. Die üblichen Warnschilder, „Lebensgefahr“, nur ein Maschendrahtzaun.

In meinem Gehirn meldet sich plötzlich Udo Jürgens zu Wort: Ich war noch niemals in New York, Hawaii, San Francisco in zerrissenen Jeans. Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh’n. Wie viele Haushalte werden damit wohl versorgt? Wohliger Schauer.

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