© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

Ungarn ist näher als wir denken
Ein Essay über die Heuchelei der linken Medien in bezug auf das ungarische Mediengesetz
Gernot Facius

Die Erregungsmaschine läuft auf Hochtouren. Das ungarische Mediengesetz, von der konservativen Regierung Orban wenig professionell kommuniziert, liefert den selbsternannten Gralshütern der Presse- und Meinungsfreiheit in deutschen linken und linksliberalen Redaktionen täglich neuen Stoff für maßlose Kritik, obwohl nur eine klitzekleine Minderheit überhaupt in der Lage ist, sich sachverständig durch das 150-Seiten-Paragraphenwerk durchzuarbeiten. (Siehe dazu unseren Hintergrundbericht auf Seite 12.) Die Parallele zum Fall Sarrazin springt ins Auge. Natürlich gehört jedes Mediengesetz zu den sensiblen politischen Themen, die höchste Wachsamkeit erfordern. Doch blenden die Orban-Kritiker aus, in welchem Binnenklima die Staatliche Behörde für Medien und Nachrichtenübermittlung (NMHH) entstanden ist: als Abwehr von rassistischen, extremistischen, jugendgefährdenden und antisemitischen Tendenzen, die sich im Land der Magyaren pilzartig ausgebreitet hatten. Vor einer vorschnellen Verurteilung warnt deshalb András Máté-Tóth, ein international angesehener katholischer Theologe an der Universität Szeged. Er sieht durchaus Bedarf für das neue Regelwerk, denn vor allem die privaten Sender hätten die Vorgaben des bisherigen Gesetzes nur wenig beachtet. Im Kern gehe es um Fragen, die auch Mediengesetze in anderen EU-Staaten regelten. Der Rat des Theologen: Zunächst einmal lesen, die Anwendung abwarten, bevor aufs neue die Faschismuskeule geschwungen wird!

Vor allem den Kritikern in Deutschland, die eilfertig von „Diktatur“ faseln, ist zu empfehlen, innezuhalten und über den Zustand der heimischen Medien nachzudenken. Die (Partei-)Politisierung der qua Gesetz „staatsfreien“ öffentlich-rechtlichen Anstalten ist ein Dauerärgernis, der Fall des abgelösten ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender markiert nur die Speerspitze politischer Einflußnahme.

Im akademischen Nebel von Journalisten- und Verlegerseminaren wird zwar der Qualitätsjournalismus der Print-Marken samt ihrer Online-Produkte beschworen, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Zeitungen schaffen sich ihre eigene Realität. Sie bestimmen, was wichtig ist (oder „wichtig“ zu sein hat), sie selektieren, sie verstehen sich nicht unbedingt mehr als Informationslieferenten und Welterklärer, sondern als Agendasetter, Themensetzer, sie liefern eine Sprachregelung, wie über die Dinge gedacht und gesprochen werden soll und grenzen bestimmte Meinungen aus.

Auch wer die Befürchtung des ehemaligen Bundesfinanzministers Peer Steinbrück (SPD), die Medien würden eines Tages die Politik ablösen, für übertrieben hält, kann nicht ignorieren, daß die Trennung zwischen Tätern (Politiker) und Merkern (Journalisten) zunehmend an Schärfe verliert. Hinzu kommt: Die Fokussierung auf das immer Gleiche, die längst nicht mehr nur vom Boulevard forcierte Verwandlung des Kulturgutes Information in eine leicht verkäufliche Ware, durchkommerzialisiert und auf den Sensationsaspekt reduziert, kann schnell in Propaganda, zumindest in klischeehaftes Denken, abgleiten. Nicht nur der Online-Journalismus, wo jeder Klick gezählt wird und für die Werbung als Währung zählt – schließlich geht es um Rentabilität –, zwingt zu schnellen, provokanten Urteilen.

Daß man nur mit steilen Thesen Aufmerksamkeit bekommt, gilt auch für Zeitungen, denn das alte Gutenberg-Medium ist eng mit dem neuen digitalen  Produkt verflochten. Also reizen sie mit Zuspitzungen, so daß der Politikbetrieb wirkt „wie ein reißender Fluß mit vielen Wirbeln und Stromschnellen“ (Der Spiegel). Die Hysterisierung nimmt weiter zu. Wer nicht mit Blindheit geschlagen ist, erkennt eine Tendenz der Abkehr von den Fakten, des Infotainments anstelle der soliden  Information, die auf einem ergebnisoffenen Rechercheweg zustande gekommen ist, manchmal gar ein Abrutschen ins Triviale.

Redaktionen neigen dazu, Information (oder was sie dafür halten) zu emotionalisieren und zuzuspitzen, eine neue, fragwürdige Funktion ist die des Story-Designers. Vor allem Tabloid-Formate sind in Gefahr, das als Maßstab zu nehmen, was Auflage bringt. Pressefreiheit in Deutschland wird weniger von außen als von innen bedroht. Wer großsprecherisch „Freiheit“ sagt, meint eben oft nur Profit.

Die Dresdener Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch haben aufschlußreiche Daten über die Wahrnehmung des Journalismus durch die Bürger vorgelegt. Danach ist jeder vierte der Auffassung, daß die Medien so einseitig und so lückenhaft informieren, daß sich der einzelne nicht mehr umfassend über seine Umwelt und Fragen, die ihn unmittelbar betreffen, informieren könne. Journalismus- und Politikverdrossenheit liegen gefährlich nahe beieinander. Dieser Befund zwingt zu einer reflektierten Debatte. Zu umstrittenen Vorgängen im Ausland darf man nicht schweigen. Das kann aber auf keinen Fall heißen, die Probleme zu Hause zu verschweigen.

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