© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

Streben nach Perfektion
Vom Einbruch des Horrors in die Welt des Balletts: Aronofskys „Black Swan“
Claus-M. Wolfschlag

Die junge New Yorker Ballerina Nina (Natalie Portman) erhält den Zuschlag für die Rolle ihres Lebens. Doch der charismatische Ballettdirektor Thomas Leroy (Vincent Cassel) ist nicht mit der Ausschöpfung ihres Potentials zufrieden und versucht deshalb mit drastischen Mitteln, die dunklen Seiten der jungen Frau hervorzulocken. Dies entspricht eigentlich nicht dem Selbstbild Ninas, das auf Selbstkontrolle und die Erlangung perfekter Anmut ausgerichtet ist. Doch auch die Konkurrenz in Gestalt der attraktiven Kollegin Lily (Mila Kunis) zwingt sie, an ihre Grenzen vorzustoßen. In einem kreativen Prozeß verschmilzt sie mit der Figur, die sie verkörpern soll.

Den symbolischen Hintergrund des seelischen Konflikts der jungen Nina bildet das 1877 erstmals in Moskau aufgeführte Ballett „Schwanensee“ von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky. Die Protagonistin muß darin sowohl die Rolle des weißen wie auch des schwarzen Schwans übernehmen. Sie muß in dieser Doppelrolle das unschuldig-anmutige Element ebenso verkörpern wie das arglistig-sinnliche: Die weiße Schwanenkönigin Odette wirbt in Konkurrenz zur schwarzen Doppelgängerin Odile um die Gunst des jungen Prinzen Siegfried. Von Odile erst getäuscht, begibt sich Siegfried am Ende doch zu Odette, um ihr die Liebe zu schwören. Odette, sich für das bedrohte Leben des Prinzen opfernd, stirbt.

Auch Nina opfert sich, wenngleich als Getriebene und letztlich eher im Wahn, statt im bewußten Akt. Ihr Prinz Siegfried ist einerseits das eigene Karriereziel, die perfekte Bühnenaufführung, andererseits sind es die verstörenden Anforderungen des Ballettdirektors, zu dem sich Nina zunehmend hingezogen fühlt.

Steht Thomas Leroy für die fordernde männliche Seite des Bühnenbetriebs, deren Barrieren es für Nina zu überwinden gilt, so befinden sich unter den weiblichen Tänzerinnen viele Neiderinnen. Hierbei sticht Ninas Rivalin Lily hervor, die mit allen Mitteln – auch jenen der weiblichen Verführung – zu agieren scheint.

Nina ist von den an sie gestellten Ansprüchen überfordert. Sie muß gegenüber ihrer überfürsorglichen Mutter (Barbara Hershey) die brave Tochterrolle einnehmen. Unter strenger Überwachung lebt sie immer noch in ihrem Kinderzimmer, umgeben von Stoffteddybären und rosa Kitsch. Die Mutter, eine Ex-Ballerina, projiziert in die Tochter eigene und nicht mehr erfüllbare Wunschträume von Karriere und Anerkennung.

Vor allem aber kämpft Nina mit ihren Ansprüchen an sich selbst. Sie, die gerne der perfekte Mensch, eine Elfe auf der Ballettbühne, sein möchte, erhält zwar die ersehnte Traumrolle. Doch um sie wahrnehmen zu können, muß sie Energien freisetzen, die sie bislang unterdrückt hatte, da sie nicht zu ihrem Bild von Perfektion passen. Der schier unlösbare seelische Konflikt führt zu zahlreichen, für moderne junge Frauen nicht untypischen, Körperreaktionen – Übergeben infolge von Magersucht, Selbstverletzungen infolge von Borderline-Störungen, Wahnvorstellungen.

Die häufig im Zusammenhang mit „Black Swan“ geäußerte Genrebezeichnung „Psychothriller“ geht insofern fehl, als der „Thrill“ vielmehr im Inneren der Protagonistin stattfindet. Das wird bereits früh in dem Film angedeutet, doch Regisseur Darren Aronofsky versteht es, den Zuschauer lange im Zweifel zu halten, indem er sich gelegentlich aus Elementen des Horrorthrillers bedient: das in der einsamen Übungshalle plötzlich abgeschaltete Licht, die Entdeckung scheinbar bekannter Personen in der U-Bahn, die dann aber rasch in der Menschenmenge oder in schwach beleuchteten Gängen entschwinden, häßliche Sätze, die plötzlich auf WC-Spiegeln schriftlich hinterlassen wurden. Hinzu kommen die sexuellen Obsessionen, die die verunsicherte junge Frau quälen und zu überwältigen drohen. Die Grenze zwischen Realität und Phantasie wird immer wieder überschritten. Man fühlt sich an Filme wie „Jacob’s Ladder“ erinnert. Der schwarze Schwan scheint kurz davor, aus Ninas Körper auszubrechen.

Steht zudem Nina am Anfang ihrer Karriere, so steht die einstige Primaballerina Beth (Winona Ryder) für das Ende nach dem Verlust ihrer Energie. Die einst umworbene, doch schließlich fallengelassene Beth endet ausgebrannt, von Wut und Selbstmitleid zerfressen, in einem Klinik-Rollstuhl und ist selbst zu verbittert, um Ninas langsam einsetzendes Verständnis und Mitgefühl noch goutieren zu können.

Darren Aronofsky hat nach „The Wrestler“ mit Mickey Rourke (2008), der Geschichte eines gescheiterten Schaukämpfers am Rande der Gesellschaft, einen zweiten Film zum Thema Körperlichkeit gedreht. Standen in „The Wrestler“ die kämpferische Gewalt und männliche Selbstausbeutung im Vordergrund, so widmet sich „Black Swan“ in symbolistischer Weise der weiblichen Körperlichkeit. Dabei ist die Kamera gnadenlos. Sequenzen von anmutiger weiblicher Schönheit, die von der Kamera dramatisch umfahren werden, wechseln mit drastischen Szenen körperlicher Verletzung. Der Zuschauer wird zwischen dem Wunsch nach Hin- und Wegschauen hin- und hergetrieben.

Das Ergebnis ist überwältigend. Darren Aronofsky, der bereits 2006 mit „The Fountain“ aufhorchen ließ, ist ein filmisches Meisterwerk gelungen.

Foto: Ballerina Nina (Natalie Portman): Die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen

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