© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/11 21. Januar 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Léon Bloys Auslegung der Gemeinplätze ist mehr als hundert Jahre alt, ein erster Teil erschien 1902, ein zweiter 1910. Man sollte eigentlich annehmen, daß in so langer Zeit Gemeinplätze einem deutlichen Wandel unterworfen waren. Tatsächlich findet man solche, die wegen ihres Klassencharakters heute kaum mehr konsensfähig sind („Armut schändet nicht“, „Ich bin doch kein Dienstbote“) und andere, die wegen der religiösen Konnotation eine Erläuterung brauchten („Ich bin wie der heilige Thomas“, „Wie Johannes in der Wüste predigen“), und dann gibt es einiges, was sprichwortartig erscheint und also auch halbverstanden tradiert wird („Sich die Hörner abstoßen“, „Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede“). Überraschend sind aber Bekenntnisse wie „Nichts ist absolut“, „Alle Religionen haben ihr Gutes“ oder das Plädoyer für „Zivilcourage“, weil man mit solcher Kontinuität kaum gerechnet hätte.

Sprechen wir über Kollektivismus: „There is no I in the team.“

Wenn Sarkozy von der großen „Säuberung“ spricht, dem das Christentum des Vorderen Orients zum Opfer fällt, hat er selbstverständlich recht. Die östlichen Kirchen hatten nur in der Endphase des Osmanischen Reiches, als der „kranke Mann am Bosporus“ unter dem Druck der europäischen Großmächte stand, eine gewisse Schonzeit. Gleichzeitig wurde ihnen klar, wie indifferent der Westen ihrem Schicksal gegenüberstand. Etwas von diesem Empfinden kann man auf Zypern, wo Moslems und Orthodoxe, Türken und Griechen, seit dem Mittelalter auf engem Raum zusammenlebten, bis heute feststellen. Etwa wenn die Rede auf die Liquidierung der Bischöfe kommt, die 1821 auf Befehl des türkischen Gouverneurs zusammen mit 470 griechischen Notabeln getötet wurden, um ein Übergreifen des Freiheitskampfes vom Festland auf die Insel zu verhindern, oder auf die ehemaligen Kirchen im Nordteil Zyperns, die nach der türkischen Invasion 1974 samt und sonders in Moscheen verwandelt wurden, wenn man sie nicht zerstört hat, nachdem die Christen vertrieben waren.

Noch einmal zu Bloy. Am verblüffendsten ist die Langlebigkeit des Gemeinplatzes „Die Extreme berühren sich“, denn man sollte doch annehmen, daß der Satz erst nach Beginn des „Jahrhunderts der Extreme“ einen Sinn ergab, also irgendwann im Gefolge von 1914 oder 1917, als dem Gulag das KZ folgte, Kommunisten zu Faschisten und Faschisten zu Kommunisten wurden, Stalin mit Hitler und dann mit Roosevelt zusammenging. Allerdings hat Bloy der Formulierung eine private Deutung gegeben, sie in dem Sinn verstanden, daß eine sehr schöne Frau auch sehr dumm sein könne, daß in manchem Fall ein sehr schwacher Mensch gleichzeitig sehr jähzornig und aufbrausend ist etc. Nur zum Schluß kommt Bloy auf den Aspekt zu sprechen, der sich mit dem heutigen Verständnis berührt, genauer: mit der darin zum Ausdruck kommenden Präferenz für die Mitte: „Alle Bürger werden ihnen sagen, daß zwischen den Extremen auch nicht eine Haaresbreite liegt. Ebendeshalb haben sie Angst davor und empfehlen das Mittelmäßige, das juste milieu, den guten Durchschnitt, der das Pulver nicht erfunden hat, weil sie aus der Tiefe ihrer Weisheit davon überzeugt sind, daß die Maulwürfe keinen Augenarzt brauchen und die Kröten den Sonnenstrahlen weniger ausgesetzt sind als die Einhörner oder die Adler.“

Die Idee der Bild-Zeitung, nach der Sarrazin- nun eine Frau-Sarrazin-Debatte in Gang zu bringen, hat ihren Charme. Allerdings darf man am Erfolg zweifeln. Das Problem an deutschen Schulen ist ja nicht, daß die Lehrer zu „lasch“ sind, sondern daß man sie längst allein gelassen hat. Eventuelles „Durchgreifen“ gegen Disziplinmangel und Leistungsverweigerung wäre nur möglich, wenn Politik und Verwaltung das decken wollten. Dagegen spricht alle Wahrscheinlichkeit. Die Lobby der Anti-Pädagogen ist wortstark, die Eltern bilden ein Wählerpotential, das man nicht verschrecken möchte, die Verantwortlichen fürchten kaum etwas so sehr wie schlechte Presse oder Unbequemlichkeiten. Vor allem aber hat man im ganzen Erziehungswesen – vom Elternhaus bis zu den staatlichen Bildungseinrichtungen – jenes Ethos abgebaut, das die Voraussetzung für die Maßnahmen ist, die sich Frau Sarrazin vorstellt.

Eine letzte Lehre aus Bloys Sammlung und Deutung der Gemeinplätze: Das Frankreich der Dritten Republik ist uns, bei aller Verschiedenheit der Zeitumstände, der sozialen Organisation, der technischen Entwicklung im Hinblick auf die Mentalität erstaunlich nahe. Vor allem die unerfreulichen Seiten einer Massengesellschaft auf europäischem Boden konnte man da studieren, lange bevor sie irgendwo anders verwirklicht war: Zerfall der organischen Bindungen, Kirchenfeindlichkeit, Opportunismus aus Prinzip, und wie erwähnt ein Kult des Mediokren.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 4. Februar in der JF-Ausgabe 6/11.

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