© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/11 14. Januar 2011

Der Flaneur
Meisen machen wehmütig
Nils Wegner

Irgendwo auf dem Gelände meiner Universität scheint eine Familie von Blaumeisen Schutz vor dem Winterwetter gesucht zu haben. Seit etlichen Wochen sieht man sie über den Campus der Geisteswissenschaften flattern, immer auf der Suche nach Nahrung und Nestbaumaterial. In der letzten Zeit nun, als Schnee die Wiesen und Wege zugedeckt hatte, haben die kleinen Vögel den Außenbereich unserer Cafeteria für sich entdeckt. Ohne Scheu vor dem Menschen und „frech wie Oskar“ hüpfen sie auf den Tischen herum, um übriggebliebene Krümel von Brötchen, Brezeln und Krapfen aufzupicken.

Dann sind da noch die wenigen Tapferen, die sich auch bei winterlichen Temperaturen und teils schneidendem Wind dort draußen zum Kaffee und meist auch einer Zigarette treffen. Sie beobachten die Tierchen stets mit Interesse. Sobald eine Meise auf den Tisch flattert und mit wackelndem Köpfchen die Anwesenden beäugt, wird es ganz still in der Runde.

„Wenn die Meise davonfliegt, meint man ein wenig Wehmut in den Gesichtern zu lesen.“

Alle halten still, um den unverhofften Gast nicht aufzuscheuchen. Ganz gleich, wer am Tisch sitzt, ob Dozent oder Student: Für ein paar Momente scheinen Anwesenheitslisten, Referate und Hausarbeiten zurückzutreten, um einer fast schon kindlichen Verzauberung Platz zu machen. Wenn der zierliche Vogel dann wieder davonfliegt, meint man beinahe ein wenig Wehmut aus den Gesichtern herauszulesen.

Als unbeteiligter Zuschauer mag man das erst einmal albern finden. Es ist schon amüsant anzusehen in einer Zeit, in der es zahllose Publikationen und Seminare über „Entschleunigung“ und die „Kunst des Müßiggangs“ gibt. Die Lösung kann aber auch zum Greifen nahe sein. Vielleicht reicht  hin und wieder etwas Naturbeobachtung, um sein inneres Gleichgewicht zu finden. Dann muß man sich auch nicht hinter hochtrabend-pseudowissenschaftlichen Rechtfertigungen für das eigene Nichtstun verstecken.

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