© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/11 14. Januar 2011

Zynische Mißachtung deutschen Lebens
Deutsche in Kriegsgefangenschaft, Teil IV: In den Rheinwiesenlagern ließen die Amerikaner massenhaft Wehrmachtssoldaten verrecken
Dag Krienen

Im Sommer 1945 starben unzählige Deutsche einen elenden Tod in den berüchtigten Rheinwiesen- und anderen US-Gefangenenlagern auf deutschem Boden. Wie viele es tatsächlich waren, dazu gibt es bis heute keine verläßlichen Auskünfte. Die offiziellen Angaben des US-Militärs und auch die für die deutsche Öffentlichkeit von bestallten Historikern aufbereiteten Zahlen, die sich in der Größenordnung von 3.000 bis 10.000 bewegen, lassen aus Gründen, auf die noch zurückgekommen wird, Zweifel aufkommen.

Dies gilt andererseits auch für die im 1989 erschienenen Buch „Der geplante Tod“ von James Bacque aufgestellte Behauptung, daß bis zu 700.000 Gefangene in amerikanischen und weitere 400.000 in französischen Lagern umgekommen seien. Der kanadische Journalist glaubte zudem, daß dieses Massensterben die geplante Folge einer vom US-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower initiierten Politik gewesen sei, die man heute als versuchten Völkermord einstufen würde. Bacque kam zu seinen Zahlen, nachdem er in den von ihm neu erschlossenen Archivquellen große Diskrepanzen zwischen den Angaben verschiedener US-Militärdienststellen zu den Gefangenenzahlen gefunden hatte. Da diese „verschwundene Million“ auffällig mit jenen 1,3 Millionen Wehrmachtsangehörigen korrespondiert, deren Schicksal bis heute noch nicht definitiv geklärt werden konnte, vermutete er eine bewußte Verschleierung der wahren Opferzahlen.

Ganz falsch lag er damit nicht. 1957 hatte das Bundesvertriebenenministerium eine Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen eingesetzt, die in 17 Jahren eine immer noch grundlegende 22bändige Gesamtdarstellung erarbeitete.

Doch wurden die ab 1962 erscheinenden Bücher auf Druck des Auswärtigen Amtes zunächst nicht für den Buchhandel freigegeben, sondern ausschließlich an Behörden und Universitätsbibliotheken ausgeliefert und nur ausgewählten Benutzern zugänglich gemacht. Man fürchtete in Bonn zu dieser Zeit bereits, daß eine freie Veröffentlichung das Verhältnis zu den neuen „Freunden“ im Westen belasten würde. Unter diesen Umständen verwundert nicht, daß der Verfasser des 1973 publizierten Bandes zu den US-Gefangenen in Europa, Kurt Böhme, zwar nicht das Elend in den Lagern verschwieg, aber es vornehmlich mit den widrigen Umständen im Jahre 1945 erklärte, die die Realisierung der humanen Ziele der USA verhindert hätten. Damit war die Standardargumentation der folgenden deutschen Historikergenerationen geboren.

 Berichte von Überlebenden aus den Rheinwiesenlagern, die auf eine sehr hohe Zahl von Todesopfern hindeuten, hatte es schon länger gegeben. Um solchen „Gerüchten“ entgegenzutreten, versuchte sich Böhme an einer „seriösen“ Ermittlung der Zahl der in den Lagern Umgekommenen. Auf der Basis der von umliegenden Gemeindeverwaltungen offiziell registrierten Begräbnisse von den Amerikanern übergebener Leichen kam er auf 4.537 Todesopfer. Anfang der neunziger Jahre ermittelten deutsche Historiker auf der gleichen Quellenbasis etwas höhere Zahlen. Der derzeitige Doyen der Kriegsgefangenengeschichte, Rüdiger Overmans, geht von 5.800 belegbaren Toten in den Rheinwiesenlagern und weiteren 5.000 nicht registrierten Opfern dort und in anderen US-Lagern in Deutschland aus.

Der methodische Grundsatz, mit dem man zu dieser „offiziellen“ Maximalzahl von insgesamt etwa 10.000 Opfern gelangt ist, entspricht jenem, der jüngst bei der Ermittlung der Zahl der Dresdener Bombentoten angewendet wurde: Deutsche Opfer, die nicht mit Paß, Brief, Siegel und Sterbeurkunde in den Akten stehen – hat es einfach nie gegeben. Im Falle der US-Lager werden Hinweise auf verschüttete, formlos begrabene oder in der Nacht abtransportierte Leichen als unseriös ignoriert. Für unregistrierte Todesfälle werden allenfalls minimalste Schätzwerte akzeptiert. Grabungen nach etwaigen unbekannten Toten auf einschlägigen Geländen wurden von deutschen Behörden unterbunden (JF 49/02 und JF 51/02).

Im Fall der Rheinwiesenlager tritt aber diese Methode in Konflikt mit der einzigen plausiblen alternativen Erklärung für die „verschwundene Million“, wie sie der amerikanische Historiker Arthur L. Smith entwickelt hat. Konfrontiert mit riesigen Massen an Kapitulationsgefangenen hätten demnach die US-Militärdienststellen im Frühjahr 1945 keine funktionsfähige Verwaltung zur Verfügung gehabt, um auch nur eine ordentliche Erfassung der Zahl der entlang des Rheins und andernorts millionenfach zusammengepferchten Deutschen vornehmen, geschweige denn für ihre geregelte Verpflegung und Unterbringung sorgen zu können. Die meisten der „verschwundenen Million“, der „anderen Abgänge“ („Other losses“, so der Originaltitel des Buches von Bacque) resultierten demnach aus mangelndem bürokratischen Überblick, stellen hernach Zählfehler dar bzw. unregistriert Entlassene, Entflohene, an andere Dienststellen Überstellte und dergleichen.

Akzeptiert man diese Argumentation, dann stellt sich allerdings die Frage, wie bei dieser hoffnungslosen Überforderung der US-Militärs ausgerechnet die in den Lagern Umgekommenen dann doch allesamt penibel registriert und ordentlich an deutsche Friedhofsverwaltungen übergeben worden sein können? – Faktisch sind alle Versuche, die Zahl der tatsächlich in den Rheinwiesen- und anderen Lagern verstorbenen Deutschen ausschließlich über amtliche Statistiken und Akten erfassen zu wollen, und gar der Anspruch, auf diese Weise zu „objektiven“ Zahlen zu kommen, schlichtweg absurd. Einen Sinn ergibt ein solches Vorgehen nur dann, wenn man von Anfang an zu möglichst geringen Zahlen deutscher Opfer kommen will.

Die tatsächliche Anzahl der Toten im amerikanischen Gewahrsam wird sich nie genau ermitteln lassen. Es spricht aber vieles dafür, daß die von Bacque genannte Zahl von einer Million, an der er auch nach massiven Angriffen auf seine Forschungsergebnisse festhält (JF 24/04), viel zu hoch greift und hier ein Forscher aus der Freude über eine vermeintlich brisante Entdeckung bei der Erschließung neuer Quellen weit über sein Ziel hinausgeschossen ist. Andererseits ist die von Arthur L. Smith gebotene Erklärung für die „vermißte Million“ über weite Strecken plausibel. Smith räumt dabei durchaus ein, daß es tatsächlich bis zu 40.000 Tote gegeben haben könnte. In dieser Höhe beziffert jüngst auch der britische Historiker Giles MacDonogh die Zahl der in den Rheinwiesenlagern Verstorbenen (JF 17/08).

Es waren mit größter Wahrscheinlichkeit also mehrere zehntausend Deutsche, die nach Kriegsende in amerikanischen Gefangenlagern auf deutschem Boden elend zugrunde gehen mußten, und es waren Millionen, die entsetzliche Leiden und Demütigungen durchlebten. Zumindest letzteres entsprach durchaus den Absichten der maßgeblichen amerikanischen Politiker und Militärs. Ihnen ging es, wie im vorangehenden Beitrag dieser Serie (JF 49/10) gezeigt, darum, die ehemaligen deutschen Soldaten durch „Hungern und Frieren“ zu erniedrigen, um ihnen eine fundamentale Lektion zu erteilen, so daß sie nie mehr auf dumme Gedanken kommen würden.

Daß dabei angesichts der Hackordnung bei der Nahrungsmittelverteilung im amerikanisch besetzten Teil Deutschlands sowie der bürokratischen Unfähigkeit der US-Militärs unvermeidlich einige zehntausend „Krauts“ in den Lagern sinnlos krepieren mußten – das dürfte in den Augen der Verantwortlichen kaum mehr als ein „Kollateralschaden“ dieser zentralen Reeducation-Maßnahme gewesen sein. Von einem „geplanten Tod“ im Sinne eines bewußten amerikanischen Nachkriegsgenozids an den Deutschen zu sprechen, geht insoweit fehl. Daß die amerikanische Umerziehungspolitik in Deutschland nach Kriegsende zunächst mit einer zynischen Mißachtung deutschen Lebens einherging, kann indes mit Fug und Recht behauptet werden.

Foto: US-Soldat bewacht Tausende deutsche Kriegsgefangene in der Nähe von Remagen, Ende April 1945: Es spricht vieles dafür, daß die von James Bacque genannte Opferzahl von einer Million viel zu hoch greift

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen