© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/11 07. Januar 2011

Umwelt
Kant statt Kollaps
Michael Manns

Alarmismus hat Konjunktur. Es gibt sogar neue Wortschöpfungen dafür, daß alles bald den Bach runtergeht. Die „Collapsitarians“ haben die Bühne betreten, notierte die New York Times. Ihr Credo: Wir müssen uns vorbereiten auf den langen Notstand, die Erde werde zum Schlachtfeld, die Chancen für ein Morgen stünden schlecht. Die Gründe: Klimawandel, Ressourcenschwund, Finanzkrise, Aufruhr, Kriege, Hungersnöte. In Blogs und Büchern gibt es Tips für den Tag eins nach dem großen Zusammenbruch: Wie mache ich Feuer? Wie gewinne ich Trinkwasser? Wie konserviere ich Lebensmittel? Was kann ich im Garten anbauen, um zu überleben? Denn Strom, Heizung und Kühlung wird es nach dem Armageddon nicht mehr geben. Soll man ein Gewehr kaufen und in die Wildnis ziehen? Der US-Professor Dmitry Orlov, einer der bekanntesten Kollapsitarier, hat vorsichtshalber seine Wohnung in Boston verkauft und ist aufs Segelboot gezogen – mit Solarmodulen und großem Proviantraum.

„Kant rüttelte das Bürgertum vor 250 Jahren auf und rief ihm zu: ‘Sapere aude!’“

Die ganz Durchgeknallten freuen sich förmlich auf diese Apokalypse; können sie doch endlich mit der verhaßten Industriegesellschaft abrechnen und einen neuen Himmel und eine neue Erde austüfteln. Orlovs Flucht erinnert an die „Aktion Eichhörnchen“ Anfang der sechziger Jahre. Die Bundesbürger bekamen Broschüren in die Hand gedrückt mit Einkaufslisten für eine 14-Tage-Ration: Mehl, Pumpernickel, Schmalzfleisch. Mehrere Jahre hieß das Motto: „Denk daran, schaff Vorrat an.“ Dann schliefen die Kampagnen ein – der Zeitgeist hatte sich gedreht. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant rüttelte das Bürgertum vor 250 Jahren auf und rief ihm zu: „Sapere aude“ – Habe Mut, dich des eigenen Verstandes zu bedienen. Vielleicht würde er heute appellieren, mehr Kraft in die Lösungen von Problemen zu investieren als in Drehbücher für Abenteuerurlauber.

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