© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/11 07. Januar 2011

Genickschüsse für kommunistische Verklärer
Die Anklage „The Soviet Story“ des lettischen Filmemachers Edvins Snore gegen den Sozialismus irritiert linke Geschichtspädagogen
Lubomir T. Winnik / Matthias Bäkermann

Ich fand die Szene absurd. Vor allem Amerikaner und Westeuropäer kauften die Symbole der verblichenen Sowjetmacht. Auf die Idee, sich ein Hakenkreuz anzustecken, wäre wohl niemand gekommen“, erklärte die US-amerikanische Journalistin Anne Applebaum 2003 im Vorwort ihres pulitzerpreisgekrönten Werkes über das sowjetische Gulag-System ihren Impuls, sich den Untaten der Kommunisten näher zu widmen. Völlig unverständig stand sie Anfang der neunziger Jahre nämlich dem Phänomen auf der von Touristen überquellenden Prager Karlsbrücke gegenüber, daß die Symbole einer viele Millionen Menschen mordenden Ideologie für gedankenlose Ignoranten aus dem Westen ohne viel Federlesens zum Teil einer skurrilen Popkultur pervertierten.

Der Titel des Films des lettischen Politikwissenschaftlers und Regisseurs Edvins Snore (siehe das Interview auf Seite 3) – „The Soviet Story“ – ist kein Zufall, ebensowenig seine englischsprachige Kommentierung im 2008 gedrehten Original. Die 85minütige Dokumentation wendet sich gerade an Westeuropäer, die von der sowjetischen Terrorherrschaft wenig wissen – oder wenig wissen wollen. Denn auch Snore war irritiert davon, daß im Westen das Leid seiner lettischen Landsleute und letztlich des halben Kontinents unter der sowjetischen Knute so wenig Empathie hervorruft.

Die Gründe dafür sind vielgestaltig: Natürlich hatten die Kommunisten nicht nur mehr Zeit für ihre Missetaten, sondern konnten auch die Spuren ihrer Massenmorde besser beseitigen als beispielsweise die schnell besiegten Nationalsozialisten, deren Leichenberge nach 1945 aller Welt präsentiert werden konnten. Auch das immer wieder vernommene Argument, daß gerade in der westlichen Massenkultur die gelieferten Bilder wichtig sind, um Stimmungen zu leiten, ist nicht völlig von der Hand zu weisen. 

Die Geschichte habe die Opfer der millionenfachen Morde in der UdSSR vergessen, behaupten eingangs die Urheber des Films. Das ist nicht ganz korrekt. Die Massaker im sowjetischen Machtbereich waren – wenn auch nicht in ihren gigantischen Ausmaßen – lange bekannt. Dennoch existierte und existiert im Westen die Tendenz, den Schrecken zu verdrängen, vielleicht auch, um nicht die eigene machiavellistische Politik eingestehen zu müssen. Die Berichte über den geplanten Hungertod (Holodomor) in der Ukraine 1932 in der New York Times, der Londoner Times oder der Neuen Zürcher Zeitung hatten bereits in der frühen Phase des Stalinismus wenig Chancen, in der Öffentlichkeit auf Gehör zu stoßen.

Viel lieber glaubte man linken Parteigängern wie dem greisen irischen Literatur-Nobelpreisträger George Bernard Shaw, der zeitgleich zu diesem Genozid die Sowjetunion bereiste und im Westen von ihrer Glorie kündete. Oder notorischen Stalinverteidigern wie Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder Bertolt Brecht, der selbst die verbrecherischen stalinistischen Schauprozesse 1937 mit Inbrunst rechtfertigte: „Je unschuldiger sie sind, um so mehr haben sie den Tod verdient.“ Letztlich stand man der Sache, dem System und seiner Ideologie nicht fern. „Die Sowjetunion scharf zu kritisieren hätte bedeutet zu verurteilen, was auch Linken im Westen lieb und teuer war“, beurteilt Applebaum.

Verstärkt wurde diese Nachsichtigkeit gegenüber dem totalitären Stalinismus, als die Sowjetunion unwillkürlich zum Feind des Feindes und damit zum Freund wurde, sprich: als Stalin in die alliierte Koalition gegen Hitler stieß. Spätestens danach waren die Rollen in Gut und Böse verteilt, und der gute „Uncle Joe“ Stalin und seine Genossen durften sogar in den Nürnberger Prozessen offenkundige Verbrechen wie den Massenmord an den polnischen Offizieren 1940 in Katyn den Besiegten, ihrem früheren Bundesgenossen im Krieg gegen Polen, in die Schuhe schieben.

Nachdem Stalin auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 von seinem früheren Paladin Chruschtschow wegen seines Personenkults und den damit verbundenen Verbrechen angeklagt wurde, kehrte für viele Linke im Westen der zum Stalinismus „deformierte“ Sozialismus endlich wieder auf den ganz geraden Weg zurück. Das ging sogar so weit, daß der Sowjetpropaganda gegen weltweit geachtete Dissidenten wie Alexander Solschenizyn (Alkoholiker, geisteskrank, Antisemit) von westlichen Intellektuellen allzu gern gefolgt wurde. Denn die Idee des Sozialismus war schließlich rein. Oder, wie es ein Graffitisprayer nach 1990 auf dem Sockel des Denkmals von Karl Marx und Friedrich Engels in Ost-Berlin den Bronzefiguren in den Mund legte: „Wir waren unschuldig.“

„The Soviet Story“ setzt genau dort an, er hebt sogar die ideologische Verwandtschaft des Sozialismus mit dem Nationalsozialismus hervor und macht damit den immanenten Unrechtscharakter beider Systeme für jeden offenkundig. Georges Watson, Historiker der Universität Cambridge, bringt diese These im Film auf den Punkt: „Ich denke, daß nur wenige wissen, daß im 19. und 20. Jahrhundert ausschließlich Sozialisten offensichtlich für den Genozid plädierten.“

Über die zentrale Rolle des Tötens schrieb bereits im Januar 1848 Marx in der Rheinischen Zeitung: „Man solle damit in einer sozialistischen Revolution beginnen, die ‘primitiven Völkerabfälle’, wie etwa Basken, Bretonen, schottische Highlander, zu liquidieren.“ Dazu gehörten ebenfalls die „vulgären“ und „unreinen“ Slawen, zum Beispiel Polen, welchen Marx jegliche Existenzberechtigung abgesprochen hatte. „Die Klassen und Rassen, die zu schwach sind, die neuen Lebenskonditionen zu meistern, müssen den Weg frei machen. Sie müssen in einem revolutionären Weltensturm untergehen“, verlangte er. Daß mit Weltensturm schlicht Massenmord gemeint war, ist ein Beleg dafür, daß die Pervertierung des Kommunismus eben „kein Versehen“ war.

Unmittelbar nach 1917 und noch vor der Etablierung der Macht wurden von den Bolschewisten jene systematisch liquidiert, die ihrer Klassenkampfideologie angeblich im Wege standen. Lenin befahl während der Revolution: „Hängt mindestens 100 Kulaks. Richtet Geiseln hin! Tut es in einer Art, daß Leute in der Umgebung von Hunderten von Kilometern es sehen und erzittern.“ Man bediente sich dabei einer speziellen Hinrichtungsweise, genannt „Sardinen-Methode“: Hände am Rücken verbunden, zielsicherer Schuß in den Nacken und der Fall in ein Massengrab – so berichtet der Film. Mit dem Genickschuß fanden dann auch die ersten zehn Millionen Opfer des Klassenmords ihren Tod.

Im Jahr 1932 ging die Kremlführung zu einer mehr Effizienz versprechenden Massentötung über – dem geplanten Hungertod. Die gegen die ukrainischen Bauern wegen ihrer widerspenstigen Haltung zur Kollektivierung gerichtete Aktion hatte einen niederschmetternden Erfolg: Während Moskau große Teile der beschlagnahmten Nahrungsmittel, vor allem Getreide, ins westliche Ausland zu Schleuderpreisen exportierte (1932: 1,7 Millionen Tonnen; 1933: 1,84 Millionen Tonnen), starben über sieben Millionen Menschen. Die Sowjets verdienten sogar noch indirekt am Genozid: Der durchschnittliche Ertrag Rußlands für jeden toten Ukrainer belief sich auf zirka 6,50 Dollar!

Ein Jahr nach Lenins Tod wurde in Deutschland 1924 eine nach erfolglosem Putsch verbotene sozialrevolutionäre Partei wiedergegründet – die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Der spätere Reichsminister für Propaganda, Joseph Goebbels, hatte damals noch öffentlich darauf bestanden, Hitler ruhig mit Lenin zu vergleichen. Weil „der Unterschied zwischen dem Kommunismus und Hitlers Gedankengut nur gering ist“, betonte er. Auch Hitler bekannte offen das marxistische Fundament seines Nationalsozialismus.

Snore verweist in seinem Film ständig darauf, inwieweit nicht nur propagandistisch die beiden Ideologien zusammenpaßten. Besonders die Vision des „neuen Menschen“ ähnelte sich frappierend, wie der Film anhand der verblüffenden Ähnlichkeit der Propaganda-Plakate aus Deutschland und der Sowjetunion belegt. Wer in diese Vision nicht paßte – egal ob falsche Rasse oder Klasse – mußte beseitigt werden. Der Erfahrungsaustausch findet zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten lange vor 1939 statt. Sogar SS-Spezialisten reisten in die UdSSR, um sich das effektiv funktionierende Gulag-System abzugucken. Filmsequenzen zeigen sich freundlich die Hände schüttelnde SS-Männer und NKWD-Offiziere.

„The Soviet Story“ dokumentiert die ideologische und politische Kollaboration zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus. Deutschland unterstützte Rußland im Krieg gegen Finnland; Rußland lieferte im Gegenzug Erdöl, Nahrungsmittel, Rohstoffe. „Wer den Nationalsozialismus kritisiert, der ist unser Feind“, drohte nicht Hitler, sondern der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow 1940 unverholen. Später mußten diese auch in der Prawda abgedruckten Aufrufe aus allen Zeitungsarchiven entfernt werden.

Trotz dieser offenkundigen Zusammenarbeit mit Hitler, der brutalen Expansionspolitik in Osteuropa, wo Polen, Finnland oder das Baltikum unter der Aggression Stalins litten, verspürten die Alliieren 1941 keine Gewissensbisse beim Bündnisschluß mit Moskau. Zweimal innerhalb eines Jahrzehnts verrieten sie Polen, Lettland, Litauen und Estland, als sie 1944 in Jalta die von Molotow und Ribbentrop 1939 festgelegte Grenzziehung akzeptiert hatten.

Edvins Snores Film klagt diesen Mißstand an. Sein Film wurde mit Mitteln der Europäischen Union gefördert und ist 2008 im EU-Parlament präsentiert worden. Die vielen erschütternden Bilder – Massengräber, Leichenberge, Zeugnisse perverser Gewalt gegen Unschuldige – und die erschütternden Augenzeugenberichte der letzten Überlebenden des Terrors sollten Europa diesen Teil der gemeinsamen Geschichte nahebringen.

In Deutschland, wo sich auch dieses Wochenende wieder Zehntausende zum stalinistischen Mummenschanz in Ost-Berlin mit meist wohlwollender Berichterstattung in allen Medien zusammenfinden, um der Ideologen dieser Massenmordpolitik zu huldigen, wurde dieser Film von keiner der vielen staatlichen und halbstaatlichen Institutionen, die sich der „Aufarbeitung“ der Geschichte verschrieben haben, noch der öffentlich-rechtlichen Medien mit ihren Milliarden­etats für würdig befunden, überhaupt nur synchronisiert zu werden.

Die DVD „The Soviet Story“ ist in 15 Sprachen im Netz abrufbar:

www.sovietstory.com

www.perrystreetadvisors.com

Kontakt: films@perrystreetadvisors.com 

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