© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

Coventry war kein Terrorangriff
Der Luftkriegshistoriker Horst Boog über heutige Deutungen des Bombenangriffs auf die englische Stadt, die der britischen Kriegspropaganda ähneln
Horst Boog

Am 14. November 2010 jährte sich der deutsche Luftangriff auf die englische Stadt Coventry während des Zweiten Weltkriegs zum siebzigsten Mal. Grund genug, auf diesen Jahrestag des strategischen Bombenangriffs auf die Industriestadt mit dem Decknamen „Unternehmen Mondscheinsonate“ in der historischen Rückschau einzugehen. Die Zeit veröffentlichte am 11. November 2010 einen Artikel über den Bombenkrieg unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Luftangriffs vom 14. November 1940. Während man mit den allgemeinen Aussagen über den Bombenkrieg einverstanden sein kann, so erweckt doch die Überschrift „Eine Stadt wird vernichtet“ ein gewisses Erstaunen, weil man darunter verstehen könnte, Coventry sei in der Absicht der Zerstörung der Stadt bombardiert worden. Auf diesen intentionellen Terrorbombenkrieg schwenkte die Luftwaffe trotz solcher Erwägungen tatsächlich aber erst mit den sogenannten „Baedeker“-Angriffen 1942 nach dem Ausbrennen von Lübeck und Rostock durch Harris’ Bomber Command ein. Bis dahin nahm man „Kollateralschäden“ in Kauf, wie das auch anfangs bei den anderen Luftmächten der Fall war.

Die von der Zeit-Redaktion besorgte Abänderung des vom Autor Klaus Maier, von 1972 bis 1998 Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg, ursprünglich vorangestellten Titels „Mondscheinsonate“ ist irreführend und bedarf der Ergänzung beziehungsweise der Korrektur. Zunächst muß zwischen strategischen und taktischen Bombenangriffen unterschieden werden. Was bei letzteren nach damaligem Völkerrecht erlaubt war, war es bei ersteren nicht. So kann man Warschau und Rotterdam nicht mit Coventry gleichsetzen und dieses nicht mit Dresden.

Noch am 14. September 1940 wies Hitler seinen Luftwaffengeneralstabschef Hans Jeschonnek, der Terrorangriffe auf England vorschlug, an, weiterhin kriegswichtige Ziele zu bombardieren wie Fabriken oder Eletrizitätswerke, solange diese noch nicht ausgeschaltet waren. In der amtlichen Geschichte der britischen Luftverteidigung „The Defence of the United Kingdom“ von Sir Basil Collier (London, 1957) heißt es dazu: „Obwohl in dem von der Luftwaffe Anfang September (1940) gefaßten Plan auch Angriffe auf die Zivilbevölkerung in größeren Städten erwähnt sind, weisen detailliierte Unterlagen, die über diese Angriffe im Herbst und Winter 1940 angefertigt wurden, nicht darauf hin, daß ein unterschiedsloser Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung beabsichtigt war. Zielpunkte waren meist Fabriken und Hafenanlagen. Andere Ziele, die den Bomberbesatzungen speziell zugewiesen waren, umfaßten die Londoner City und das Regierungsviertel um Whitehall.“

Bombardierung des Herzen britischer Rüstungsindustrie

Was nun die „Vernichtung“ Coventrys betrifft, so schreibt der englische Historiker Norman Longmate (The Bombers, London 1983), der deutsche Angriff sei eine „legitime Kriegshandlung“ gewesen, die, weil wegen der dichten Gemengelage der Ziele auch die Kathedrale von Coventry zerstört worden war, in der Kriegspropaganda als „Terrorangriff auf die Zivilbevölkerung“ dargestellt wurde und dramatische Auswirkungen auf die britische wie auch auf die Weltmeinung gehabt habe. „Tatsächlich haben die deutschen Bomberbesatzungen ihre Ziele mit bemerkenswerter Genauigkeit getroffen trotz aller Propagandamythen vom unterschiedslosen Terrorangriff. Kaum eine bekannte Firma der ansässigen Industrie entging ihrem Schicksal. (...) Die Deutschen zielten tatsächlich auf die Fabriken.“ Dies waren hauptsächlich siebzehn zwischen Wohngebieten verstreute Flugmotoren-  und Rüstungsbetriebe. Selbst Luftmarschall Harris hob in seinen Memoiren (Bomber Offensive, London 1947) die Präzision der deutschen Bombenabwürfe zu jener Zeit hervor.

Strategische Bombardements von militärisch relevanten Zielen in Städten waren unter Beachtung äußerstmöglicher Rücksichtnahmen kriegsvölkerrechtlich erlaubt, denn sonst hätte man seine kriegswichtige Industrie und Militäranlagen durch Verlagerung in die Städte immun gegen Bomben machen können. Am Tage nach dem Angriff bezeichnete John Anderson, Lord President of the Council im britischen Kriegskabinett, das Bombardement als „bisher schwersten“ Luftangriff auf ein Rüstungszentrum, und der Minister für Flugzeugproduktion, Max Aitken Lord of Beaverbrook, sagte: „Die Wurzeln der (Royal) Air Force stecken in Coventry. Wenn Coventrys Produktion zerstört wird, dann wird der Baum absterben.“ Selbst Paul Oestreicher, der Kanonikus und Director of International Ministry an der neuen Kathedrale von Coventry erklärte am 12. Februar 1995 im Observer: „Wenn Krieg Krieg war, dann war Coventry ein legitimes Bombenziel: Es war das Herz der britischen Rüstungsindustrie.“ In der britischen Luftkriegsdoktrin (Air Publication 1300, Royal Air Force War Manual, Part I: Operations) waren schon in der Zwischenkriegszeit Arbeitersiedlungen nahe bei Fabriken bevorzugte Bombenziele, und Hugh Montague Lord Trenchard, damaliger Chief of Staff der Royal Air Force, meinte im Jahre 1928, zwischen zivilen und militärisch wichtigen Zielen könne angesichts der Verzahnung der Wirtschaft in industrialisierten Nationen nicht unterschieden werden. Man sollte die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges, wie überhaupt historische Fakten, möglichst von alle Seiten betrachten.

 

Dr. Horst Boog, B.A. (Middl), war leitender wissenschaftlicher Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) in Freiburg. Er ist Herausgeber der Bände „Luftkriegführung im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich“ (1992) und Verfasser des Beitrags zum Luftkrieg im Schlußband 10 der MGFA-Reihe über den Zweiten Weltkrieg.

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