© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Die Weihnachtsgeschichte ist der mythische Rest im Christentum. Nicht wegen der legendarischen Züge der Erzählung und der Ähnlichkeit mit anderen Überlieferungen vom bedrohten Retterkind, sondern weil es tatsächlich darum geht, daß eine „heilige Geschichte“ erzählt wird, die aus dem üblichen historischen Verlauf gefallen scheint, in der heilige Personen auftreten und heilige Ereignisse sich vollziehen, die man in der heiligen Zeit des Jahres nacherzählt und -spielt. Trotz des Bedeutungsverlusts der Religion im allgemeinen, des Christentums im besonderen, kommt noch niemand auf die Idee, die Überlieferung selbst für obsolet zu erklären, sie in eine andere Jahreszeit zu verlegen – weil das Wetter besser wäre oder die Möglichkeit der ökonomischen Verwertung – oder Weihnachtslieder in einer anderen als der Weihnachtszeit zu singen. Man muß diese mythische Färbung im Blick behalten, um die ungebrochene Popularität von Weihnachten zu verstehen und die eigenartige Stimmung, in der das Jahr zu Ende geht, wenn der sonst so unerbittliche Fortgang aufgehoben scheint, „zwischen den Jahren“, weil die Zeit neu beginnt an ihrem Ursprung.

Das ungeheure Wachstum der Bürokratie ist nicht nur auf eine immanente Gesetzmäßigkeit zurückzuführen, sondern auch auf das Betragen der Verwalteten, seitdem man ihnen nahegelegt hat, ihre Interessen unbedingt wahrzunehmen. Was prompt und massenhaft geschah, woraufhin jeder Vorgang in Frage gestellt werden kann und nichts bleibt, als Dokumentation und ein Grad der Vorschriftenfixierung, den niemand erwartet hat.

„In Deutschland hat jedes Kind neun bis dreizehn Jahre Religionsunterricht. Wieso dann gar so wenig hängenbleibt, um es mal so auszudrücken, ist unbegreiflich.“ Man kann den Stoßseufzer von Papst Benedikt XVI. durchaus verstehen, aber nicht das „unbegreiflich“. Die Ursachen für das Elend liegen seit langem klar zutage. Erstens: Der Religionsunterricht findet in einer säkularisierten Umwelt statt, seine Inhalte haben nichts mit der Lebenswirklichkeit sonst zu tun und werden deshalb von Schülern wie Eltern wie Schulleitungen als irrelevant betrachtet; zweitens, der relative Vorteil, den das auch bedeuten könnte – wegen der Fremdartigkeit, des faszinierenden Kontrasts, des Spielraums –, wird aufgehoben durch die Tendenz der Religionspädagogik zu Infantilisierung und Unterforderung, weshalb, drittens, die alte Feststellung, daß man Religion nicht „haben“ (Hans Blüher) kann wie Latein oder Mathematik oder Biologie, ergänzt werden muß um eine neue, daß nämlich das Personal, das das Fach vertritt, nicht immer der eigentlichen Herausforderung gewachsen ist.

Die Absicht der US-Regierung, Wikileaks wegen „Verschwörung“ zu belangen, wirkt doch übertrieben, mindestens aber geschichtsvergessen. Immerhin war man in die Weltpolitik eingetreten, mit der Forderung, der „Geheimdiplomatie“ der Alten Welt ein Ende zu machen und endlich offenzulegen, was die Menschheit betrifft. Wie immer: Angesichts ihrer Realisierbarkeit erscheint die Utopie wenig erstrebenswert.

Die Bilder von den Ausschreitungen in Rom und Athen erinnern die Älteren an die siebziger Jahre. Verglichen mit dem, was damals an der Tagesordnung war, sind die Vorgänge noch harmlos. Allerdings zeigt sich auch, daß das Reservoir der gewaltbereiten Linken weder durch Einbindung noch durch Deeskalation zum Verschwinden gebracht werden konnte. Was von den meisten als eine kaum ernstzunehmende jugendliche Subkultur betrachtet wird, kann sich schon wegen seiner systematischen Unterschätzung als ernsthaftes Problem erweisen. Dieser Schoß ist tatsächlich „fruchtbar noch“.

Die Freilegung von „Pfeiler 18“ in Göbekli Tepe ist beendet. Was bis dahin nur als T-förmiges Fragment erschien, ist ein sechs Meter hoher Megalith, sorgfältig bearbeitet, menschengestaltig, mit Armen an den Breitseiten, deren Hände vor dem Oberkörper gefaltet sind, den Unterleib mit einem Schurz aus Fuchsfell bedeckt, Kopf und Gesicht streng stilisiert. Der Leiter der Ausgrabungen, Klaus Schmidt, hält es für denkbar, daß wir es mit den ersten Götterstatuen der Menschheit zu tun haben, so wie auch die Möglichkeit besteht, daß die Zeichen, die Wände und Stelen an dem Fundort in Anatolien bedecken, mehr sind als Abbildungen, nämlich „Hieroglyphen“, eine Art Vor-Schrift des Neolithikums, deutlich älter als alles Vergleichbare. Die Ausgrabungen in Göbekli Tepe haben nicht den sensationellen Charakter, der sonst die Aufmerksamkeit auf die Archäologie lenkt, es gibt kein Gold, keine Kostbarkeiten im materiellen Sinn. Trotzdem verdient der Platz unsere Aufmerksamkeit, weil er uns daran erinnert, woher wir kommen und daß am Anfang unserer Geschichte die Religion stand, daß der Zusammenhang von „Kult“ und „Kultur“ elementar ist.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 7. Januar in der JF-Ausgabe 2/11.

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