© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/10-01/11 24./31. Dezember 2010

„Nicht zu arbeiten macht einen verrückt“
Reportage: Einst war Bernd B. ein vermögender Mann und Schloßbesitzer. Dann verlor er alles. Nun lebt er von Hartz IV
Hinrich Rohbohm

Ein schmuckloser Innenhof in Berlin-Neukölln. Eine alte knarrende Treppe führt in den vierten Stock. Von den Wänden bröckelt der Putz, Heizungsrohre, in die sich Löcher gefressen haben. Hier wohnt Bernd B. geschieden, arbeitslos, Hartz-IV-Empfänger. „Ich komme klar, aber ein schönes Leben ist es nicht“, sagt der 64 Jahre alte ehemalige Fernsehtechniker. Er bittet in seine 48 Quadratmeter große Wohnung. Der gebürtige Hannoveraner zeigt auf einen alten Holzstuhl. „Das ist das einzige, was mir geblieben ist“, erzählt er. Das einzige Möbelstück aus Schloß Schmuggerow, in dem er einst lebte. „Ich hänge noch heute an dem Gut“, gibt er offen zu. Er wird nicht mehr dorthin zurückkehren können. Das Schloß wurde versteigert, er mußte gehen. Das war vor sieben Jahren. Heute zieren elegant-antiquierte goldfarbene  Bilderrahmen sein Wohnzimmer. Ein kitschiger roter Kronleuchter hängt auf Gesichtshöhe.  „Ich brauch so etwas um mich herum, da fühle ich mich dann wohl.“ Ein Hauch von Schloßleben in der Hartz-IV-Wohnung.

Vom Schloßherrn zum Empfänger staatlicher Transferleistungen. Wie konnte es dazu kommen? Bernd B. atmet schwer aus. So, als wollte er all den Ärger, Frust und all die Enttäuschungen der vergangenen Jahre ausatmen. Dann schweigt er. Eine halbe Minute lang. Für einen Moment scheint es, als setze er zu einer Erklärung an. Dann bricht er wieder ab, um es schließlich noch einmal zu versuchen. Sein Blick ist auf die Wand gerichtet. Doch vor seinem geistigen Auge scheint er etwas ganz anderes zu sehen. „Ich habe eine tolle Zeit gehabt“, beginnt er auf sein Leben zurückzublicken. B. wächst in Ahlfeld auf, einer 20.000 Einwohner umfassenden Kleinstadt bei Hildesheim.

Seine Eltern waren aus Schlesien geflohen, hatten sich in der Bundesrepublik eine neue Existenz aufgebaut. Sein Vater wird kaufmännischer Leiter, baut für die Familie ein Haus in Hannover. B. absolviert die Mittlere Reife, beginnt 1965 eine Starkstromelektriker-Lehre bei AEG. Anschließend verläßt er Deutschland. Er studiert Elektrotechnik in England. Später wird er Projektmanager für Fernsehtechnik, arbeitet in Kenia, Ägypten und Nigeria. 1972 heiratet er eine Chinesin, bekommt mit ihr eine Tochter. Die Ehe scheitert. „Es war eine einzige Katastrophe“, erinnert sich B. Die Tochter erzieht er allein, pflegt zudem seine an Parkinson erkrankte Mutter.

Der Kontakt zur Tochter ist abgebrochen

Als Großbritannien 1993 von einer Rezession heimgesucht wird, verliert er seine Arbeit. Er geht zurück nach Deutschland, findet dort eine neue Stelle. Doch seine Tochter will nicht mitkommen, will in England bleiben. Weil der Vater dennoch geht, beginnt sie ihn zu hassen. B. schluckt, die Stimme ist belegt. Das Sprechen fällt ihm jetzt schwer. „Wir haben praktisch keinen Kontakt mehr, bringt er mühsam über die Lippen. Vor ein paar Jahren hatte sie ihn ganz unverhofft besucht. „Aber eher, weil sie mit ihrem Freund ohnehin gerade Berlin besucht hatte. Sie hatte nur kurz hereingesehen, den Rest der Zeit wollte sie allein mit ihrem Freund verbringen. Das hatte dann leider wieder zum Streit geführt.“ 1996 wird B. erneut arbeitslos. „Ich wußte immer schon, daß mir das eines Tages passieren wird“, sagt er. Er ist zu der Zeit 50 Jahre alt und hat 40.000 D-Mark auf dem Konto. Er besitzt vier Häuser. Zwei in England, eines in Hannover und eine Villa am Lago Maggiore in Italien. „Nicht genug, um langfristig ohne Arbeit überleben zu können“, meint er. B. wird auf die alte Schloßruine von Schmuggerow in Ostvorpommern nahe der polnischen Grenze aufmerksam. „Ein Schloß, das ist es“, denkt er. Er will sich diesen Traum erfüllen.

B. schaltet seinen Fernseher ein, schiebt eine Videokassette in seinen Rekorder. Ein vollkommen zerfallenes Gebäude flimmert über die Mattscheibe. Schloß Schmuggerow. Die Amateuraufnahmen zeigen offene Dächer, verschimmelte Tapeten, Bauschutt in den Ecken. „Was sie da sehen ist noch gar nichts“, sagt der 64jährige. B. sieht damals nicht das trostlose Gut, den verwucherten Park, die zerfallenen Wände, die von Wind und Wetter zerfressenen Tapeten. Er sieht ein Schloß. Sein Schloß. Das, in dem er wohnen möchte und in dem er ein Hotel mit Restaurant einrichten  möchte. Das er zu seiner neuen Heimat machen möchte. Dieser Traum ist es, der dem nun Arbeitslosen Bernd B. neues Leben einhaucht. „Ich war ein Ertrinkender, der sich an einem Strohhalm festhielt“, sagt er heute.

Die örtliche Gemeinde verkauft ihm die Ruine für 35.000 Mark. Für die Sanierung benötigt er mehr als eine Million Mark. Geld, das ihm die örtliche Kreissparkasse per Kredit zur Verfügung stellt. „Denen hätte eigentlich klar sein müssen, daß ich das niemals hätte zurückzahlen können“, gibt sich B. heute realistisch. Doch damals, am 16. August 1996, seinem 50. Geburtstag, an dem er den Kaufvertrag für das verfallene ostvorpommersche Gut unterschrieb, da träumte er. Er läßt die Zimmer geschmackvoll einrichten. Er läßt die Fassade renovieren, den Garten neu anlegen. Er hilft im Restaurant beim Kochen. Die Speisen bringt er persönlich an die Tische der Gäste.

Er ist glücklich. „Ich wohnte in einem Schloß, wissen Sie, wie toll das ist?“ schwärmt er mit einem Leuchten in den Augen. Seine Gäste seien begeistert gewesen. Er kramt ein Gästebuch hervor, zeigt die zahlreichen lobenden Einträge darin, während ein stolzes Lächeln die Lippen des Mannes umspielt, der von sich sagt, er könne nicht lächeln, das liege ihm nicht. Der Traum platzt im Jahr 2003. Die Bank läßt das Gut versteigern. Aus dem Schloßherrn von Schmuggerow wird der Hartz-IV-Empfänger von Neukölln. „Eigentlich wollte ich mir da das Leben nehmen“, erinnert sich B.

Doch sein Leben geht weiter. In einer kleinen Hinterhof-Altbauwohnung im vierten Stock, mit knarrender Treppe und bröckelndem Putz. Auf 48 Quadratmetern, die 225 Euro kalt kosten und vom Sozialamt bezahlt werden. B. lebt jetzt von 350 Euro im Monat. Stütze. Krankenversicherung und Heizkosten zahlt „das Amt“. „Das mit den Heizkosten finde ich nicht in Ordnung“, sagt B. Weil er erlebt hat, daß viele Hartz-IV-Empfänger die Heizung aufdrehen und das Fenster öffnen, was „Geldverschwendung“ sei. B. ist das personifizierte Gegenteil von Verschwendung. Das Hartz-IV-Geld verwaltet er auf seinem Computer per Excel-Programm. Vier Euro pro Tag gesteht er sich als Ausgabe zu. „Gebe ich mehr aus, errechnet mir das Programm für die nächsten Tage einen entsprechend niedrigeren Ausgabesatz, gebe ich weniger aus, entsprechend mehr“, erklärt er seine Haushaltsphilosophie, durch deren disziplinierte Anwendung er jeden Monat knapp 100 Euro spart.

Lorbeerkranz im Kampf um einen Arbeitsplatz

 Sonntags geht er regelmäßig in die Kirche. Mit dem Kleinbus seiner Kirchengemeinde holt er ältere Leute zum Gottesdienst ab, vedient sich damit  ein paar weitere Euro. So finanziert er seine Bilderrahmen, für die er zwischen 100 und 300  Euro ausgibt. Er hat sich auch Christbaumkugeln gekauft. Das erste Mal, seit er hier wohnt. „Weil ich jetzt wieder optimistisch in die Zukunft blicke“, sagt er. Der Grund: Bernd B. hat eine Idee. Er will japanische und chinesische Reisegruppen durch Mecklenburg-Vorpommern fahren, ihnen die Schlösser der Region und seine Geschichten näherbringen. Er hat Touristik-Unternehmen angeschrieben, um sie von seiner Idee zu überzeugen. Jetzt wartet er auf Antwort.

Mit seiner Idee hat er sich auch an Ex-VW-Vorstandsmitglied Peter Hartz gewandt, dem Erfinder von Hartz IV. „Ich gebe nie auf, ich spreche alle an, vielleicht komme ich ja bei irgendwem durch. Vielleicht habe ich Glück.“ B. hatte Glück. Er hatte es geschafft, mit Peter Hartz zu telefonieren, erzählte dem Topmanager von seiner Idee. Der war davon sogar angetan, schickte Bernd B. einen Brief. B. zeigt das Schreiben. Sein ganz persönlicher Lorbeerkranz im Kampf um einen Arbeitsplatz. Hartz zeigt sich vom Willen des Sozialhilfeempfängers beeindruckt. „Falls ich eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit für Sie sehe, werde ich mich wieder bei Ihnen melden“, schreibt Hartz im Mai dieses Jahres zurück. B. hofft und wartet darauf.

Peter Hartz ist einer von zwei Gründen, warum B. neue Hoffnung geschöpft hat. Der andere Grund ist eine Freundin, die eine Feier in einem Hotel gewonnen hat. B. ist eingeladen. Zu Weihnachten. Jene Feiertage, die er seit Jahren allein zugebracht hat. Allein in seiner Hartz-IV-Wohnung, zwischen seinen Bilderrahmen und dem kitschigen Kronleuchter. Ohne Christbaumkugeln. Ohne Familie. Der Vater ist schon lange tot, die Mutter an Parkinson gestorben. Von seiner  Frau geschieden und zur Tochter kaum noch Kontakt. Dazu keine Arbeit. „Es macht einen verrückt, nicht zu arbeiten“, schildet er seinen Alltag. Wer nichts zu tun habe, der müsse aufpassen, daß er nicht damit beginnt, morgens schon ein Bier zu öffnen. B. versucht der Gefahr durch Fitneßtraining zu entgehen. Der Sport tut ihm gut, wie er sagt. Er halte ihn vital. Und er gibt ihm die Kraft, die er braucht, um weiterzukämpfen. Denn Bernd B. hat sich auch weiterhin eines geschworen: Er wird niemals aufgeben.

 

Hartz IV

Der Begriff Hartz IV ist aus den Vorschlägen der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ hervorgegangen, die 2002 vom damaligen Vorstandsmitglied der Volkswagen AG, Peter Hartz, geleitet wurde.  Die  Vorschläge wurden daher auch  als  „Hartz-Konzept“ bezeichnet, dessen sogenanntes viertes Gesetz die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II regelt. Das Arbeitslosengeld II ist in Deutschland die Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige nach dem zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Es wurde zum 1. Januar 2005 eingeführt und faßt die frühere Arbeitslosenhilfe mit der einstigen Sozialhilfe auf dem Leistungsniveau des „soziokulturellen Existenzminimums“ zusammen.

Der Regelsatz für einen Hartz-IV-Empfänger soll ab dem 1. Januar kommenden Jahres um fünf Euro auf 364 Euro steigen. Zudem übernimmt das Sozialamt Miet- und Heizkosten sowie den Krankenkassenbeitrag der Leistungsempfänger. Laut Statistischem Bundesamt ist deren Anzahl in diesem Jahr um 1,9 Prozent auf 6,7 Millionen Menschen gestiegen. Die Kosten für Hartz-IV-Empfänger beliefen sich im vergangenen Jahr auf 35,9 Milliarden Euro. Rund ein Viertel der Empfänger waren dabei Kinder unter 15 Jahren.  Die Bundesagentur für Arbeit rechnet jedoch damit, daß sich die  Anzahl der Hartz-IV-Empfänger im kommenden Jahr um 140.000 reduzieren wird.

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