© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/10 17. Dezember 2010

Frisch gepresst

Carl Schmitt. Als der Staatsrechtler Carl Schmitt 1928 sein Bonner Ordinariat mit einem Lehrstuhl an der akademisch für drittklassig angesehenen Berliner Handelshochschule vertauschte, gab es nur eine Erklärung für diesen Wechsel: die Nähe zur Macht. Und dieses Ziel seiner Wünsche hat CS in erstaunlich kurzer Zeit auch erreicht – für alle sichtbar im Herbst 1932, als „Anwalt des Reiches“, als Kronjurist der Regierung Franz von Papens, die er nach ihrem „Preußenschlag“ vor dem Leipziger Staatsgerichtshof vertrat. Von 1930 bis 1934, das waren fünf Jahre Leben auf Hochtouren, in das sein mühsam entschlüsseltes Tagebuch nun Einblick gewährt. Es zeigt einen mit tausend Fäden im Berlin der Weimarer Endzeit verknüpften und doch vereinsamt wirkenden Intellektuellen, einen laschen Katholiken und lausigen, allzeit seitensprungbereiten Ehemann, einen unruhigen, überreizten Geist, der Frauen und guten Wein sehr, Juden aber entschieden weniger liebte. Viele pawlowsch auf Schmitts „Antisemitismus“ konditionierte CS-Hasser dürften für die generös gestreuten einschlägigen Kraftzitate dankbar sein, mit denen sich ihr Ressentiment noch auf unabsehbare Zeit befeuern lassen wird. (wm)

Wolfgang Schuller, Gerd Giesler (Hrsg.): Carl Schmitt: Tagebücher 1930 bis 1934. Akademie Verlag, Berlin 2010, gebunden, 519 Seiten, Abbildungen, 59,80 Euro.
 

Türkengefahr. Vielleicht war es 1964 noch nicht ersichtlich, daß seine richtungsweisende Publikation über die Belagerung Wiens von 1683 für John Stoye zum akademischen Lebensthema werden sollte. Die jüngst in Großbritannien erschienene Neuausgabe des heute emeritierten Oxforder Historikers liegt jetzt auf deutsch vor. Darin bekräftigt Stoye seine nie wirklich umstrittene These, daß der schicksalhafte Sieg der abendländischen Heere unter Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg und dem polnischen König Johann III. Sobieski gegen die militärisch weit überlegenen Türken mehr für Europa bedeutete, als daß die Wiener sich ihre große Pummerin-Glocke für den Stephansdom aus der Bronze zurückgelassener Kanonen gießen oder halbmondförmige Hörnchen aus dem erbeuteten Mehl backen konnten. Stoye deutet die verlorene Schlacht am Kahlenberg als jenes „Stalingrad“ für das Osmanische Reich, das letzlich zur Demütigung von Sèvres 1920 führte. (bä)

John Stoye: Die Türken vor Wien. Schicksalsjahr 1683. Ares Verlag, Graz 2010, gebunden, 279 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

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