© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Die Welt in Ordnung bringen
Seismogramm eines Jahrhunderts: Zur Neuauflage von Heimo Schwilks exzellent komponiertem Querschnitt durch Leben und Werk Ernst Jüngers
Manfred Dressler

Nach über zwanzig Jahren ist die beste Einführung in Ernst Jüngers Welt wieder auf dem Buchmarkt greifbar: Heimo Schwilks 1988 erstmals veröffentlichte „Bilder und Texte“ zu Leben und Werk des Jahrhundertschriftstellers.

Da von Schwilks Kennerschaft inzwischen auch eine opulente Jünger-Biographie zeugt (JF 44/07), bestand kein Anlaß, die alte Konzeption grundlegend umzukrempeln, um auch nur die Fülle der seit 1998 publizierten Zeugnisse aus dem Marbacher Nachlaß zu berücksichtigen, zu schweigen von den Massen an gelehrter Sekundärliteratur. Denn dies wäre am Ende auf eine völlige Neubearbeitung hinausgelaufen, die Schwilk, wie es in einer knappen Nachbemerkung heißt, für „nicht sinnvoll“ erkannte. Zumal er selbstbewußt genug ist zu glauben, neue Quellenfunde und Interpretationen hätten ihn nicht zu einer Revision seines Jünger-Bildes gezwungen. So ist erhalten geblieben, worauf es ihm ankam: „der Charakter eines Lesebuchs, das einen Querschnitt durch das diaristische, erzählerische und essayistische Werk Ernst Jüngers“ bieten möchte.

Neu sind naturgemäß die letzten dreißig Seiten, die im Kapitel „1988–1998: Die Toten kommen näher“ die Lebensreise bis zu dem Punkt begleiten, wo der Styx zu schimmern begann. Und ein klein wenig über diesen Tod („ein europäisches Ereignis“) hinaus, bis zum Begräbnis des vorerst letzten Deutschen, der zur Weltliteratur zählt (Rolf Hochhuth), und bis zu den hymnischen Nachrufen samt Sonderbriefmarke.

Ungeachtet seiner generellen Selbstbescheidung hat Schwilk den Textkörper um viele Zitate gerade aus jenen Korrespondenzen bereichert, die ihm zu Jüngers Lebzeiten nicht zur Verfügung standen: Aus den Jugend- und Feldpostbriefen, aus dem Austausch mit dem Bruder Friedrich Georg, mit den Weggefährten Hugo Fischer, Friedrich Hielscher, Ernst Niekisch, Carl Schmitt.

Zu wünschen wäre gewesen, daß Schwilk sich auch für die etwas knappen Kapitel über die Jahrzehnte nach 1945 aus dem gewaltigen Marbacher Fundus ein wenig zupackender bedient hätte. Dies gilt ebenso für die Bebilderung, mindestens mit Blick auf Jüngers touristische Argonautenfahrten nach Asien und Afrika, zu den Archipelen des Indischen Ozeans und des Mittelmeers.

Schwilks Leistung mindern solche Leserwünsche nicht. Denn wie 1988 besticht die glückliche Komposition der Texte, die ungeachtet ihrer chronologischen Entfaltung fast schlagartig die Tiefenstrukturen, die Systematik des Jüngerschen Denkens, seine „Metaphysik“, die an Oswald Spengler geschulte „Melodie des Analogen“ erhellt. Das bewegende Moment, das achtzig Jahre Autorschaft trägt, einsetzend mit den Kriegsbüchern über die Materialschlachten des industrialisierten Ersten Weltkriegs, leitmotivisch die politische Publizistik des „Nationalrevolutionärs“ bestimmend, den „Beobachter am Abgrund“ nach 1933 stabilisierend, ebenso den die „Linie“ des Nihilismus passierenden „Waldgänger“ und schließlich den katholischen Konvertiten haltend, dieses Zentrum des Jüngerschen Werkes offeriert Schwilk mit didaktisch geschickter Beharrlichkeit. Nämlich in immer neuen Variationen das eine Thema von der relativierenden Macht des Bewußtseins, die jede Erkenntnis des modernen Menschen durch eine entgegengesetzte lähme, die, so Jünger 1923 dem Bruder klagend, „breit alle Dinge umströmt wie der Havelfluß“, und der man doch um der Selbstbehauptung willen mindestens „einige Arme abdämmen“ müsse, um sich und die Welt „in Ordnung“ zu bringen – so „halbwegs“ wenigstens, wie Jünger sie nach zwei Menschheitskatastrophen noch in der oberschwäbischen Provinz vorzufinden meinte.

Bei der gewiß eines Tages anstehenden Überarbeitung für eine dritte Ausgabe des unentbehrlichen Buches sind vielleicht die Vertauschung der Bildlegenden zu Ernst Toller und Arnolt Bronnen zu korrigieren, die unvollständige Transkription des ersten Absatzes eines Jünger-Briefes an seine Verlobte Gretha von Jeinsen, der offenkundig falsch datierte Lazarettaufenthalt im „Mai 1913“, die vermeintliche Verleihung des EK II. Klasse 1940 (es war die Spange zu der bereits 1915 erworbenen Auszeichnung) und dergleichen Kleinigkeiten mehr zu verbessern, die der subtilen Fehlerjagd des Lektorats entgingen. Für den Gabentisch ist dieser Prachtband trotzdem unbedingt zu empfehlen.

Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten. Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Klett-Cotta, Stuttgart 2010, gebunden, 336 Seiten, durchgehend illustriert, 49,95 Euro (Einführungspreis bis 31.01.2011, danach 59,95 Euro)

Foto: Ernst Jünger: Von Frühjahr 1919 an war er Zugführer in der neu formierten Reichswehr (Bild links); 1997 mit seiner griechischen Landschildkröte, die er nach der antiken Göttin der Jugend  „Hebe“ nannte (Mitte); im Juli 1990 mit dem französischen Bildhauer Serge Mangin während dessen Arbeit an einer Jünger-Büste

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