© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/10 10. Dezember 2010

Die Macht der Kulturkritik
Eine kurze Geschichte der konservativen Intelligenz nach 1945 (II): Die restaurativen fünfziger Jahre
Karlheinz Weissmann

Es ist heute schwer, sich eine Vorstellung von der geistigen Atmosphäre der fünfziger Jahre zu machen. Auch wenn die Unsachlichkeit des Urteils über die „Adenauerzeit“, den „Muff“, die „Spießigkeit“ zurückgeht, wird man feststellen, daß das Bild undeutlich oder unvollständig ist. Als konsensfähig gilt, daß die Fünfziger „restaurativ“ waren, wobei die Gutwilligen an die Restauration von Bürgerlichkeit im Geist der Weimarer Republik oder des Wilhelminismus denken, die Böswilligen an „Renazifizierung“.

Die Feststellung des Restaurativen war schon zeitgenössisch, allerdings haben kluge Beobachter immer auf deren Oberflächlichkeit hingewiesen. In einem Leitartikel für das einflußreiche Sonntagsblatt beantwortete Hans Zehrer 1953 die Frage „Leben wir in der Restauration?“ mit dem Hinweis, daß die Deutschen im Grunde noch gar „nicht aus jenem Nichts herausgekommen sind, in das wir vor vier Jahrzehnten hinabstürzten“. Restauration setze mehr Substanz voraus, als man habe, und sei unmöglich angesichts von „planetarischen“ Entwicklungen, deren Ziel und Zweck niemand kenne.

Ähnlich dachten die meisten konservativen Intellektuellen, auch wenn die Akzente anders gesetzt wurden: Man kann die These des Historikers Franz Altheim nennen, das 20. Jahrhundert sei eine Phase der Wanderungen und der Transformation ähnlich der Spätantike, Hans Freyers skeptische „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“ oder die Einschätzung Carl Schmitts, der nur noch die Alternative von „utopistischer Selbstentortung“ und „geschichtsphilosophischer Selbstverortung“ sah.

Stärker als die Katastrophe von 1945, die deutsche Teilung oder die Blockbildung des Kalten Krieges wirkte jedenfalls der Eindruck, in einer Epochenscheide zu stehen, Teil jener großen Umwälzung, die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst worden war. Daher die intensive Auseinandersetzung mit den Büchern der Theologen Romano Guardini – „Das Ende der Neuzeit“ – oder Friedrich Gogarten – „Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit“ –, die Renaissance der Ideen Oswald Spenglers und die breite Ablehnung der Optimismen Arnold J. Toynbees, der Erfolg des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr mit seiner These vom „Verlust der Mitte“, das Interesse an den nüchtern-brutalen Analysen des Soziologen Arnold Gehlen, die Intensität, mit der man nach Erscheinen seiner „Metaphysik“ die Rückkehr Martin Heideggers in die Öffentlichkeit zur Kenntnis nahm oder Essays von Ernst Jünger wie „Der Gordische Knoten“ beziehungsweise „Über die Linie“ las. Daher auch die Irritation auf der anderen Seite des politischen Spektrums, als 1955 der erste Band von „rowohlts deutscher enzyklopädie“ erschien und mancher sich sorgte, daß hier der „Geist der Gegenrevolution“ (Karl Korn) breitenwirksam werde; der Herausgeber Ernesto Grassi vertrat dezidiert rechte Positionen, den ersten Band der Enzyklopädie hatte Sedlmayr verfaßt, und als Mitarbeiter waren Altheim, Margret Boveri, Mircea Eliade, T. S. Eliot, Gehlen oder Peter Hofstätter vorgesehen, die man jedenfalls nicht der Linken zurechnen durfte.

Der Konservatismus, der sich hier Geltung verschaffte, war in erster Linie ein Kulturkonservatismus, dessen Einfluß darauf zurückging, daß die Kultur in der Öffentlichkeit als entscheidender Faktor galt und Kulturkritik einen entsprechenden Stellenwert besaß, von der Debatte über die „Vermassung“ (Hendrik de Man) bis zum Problem der Elitenrekrutierung, von den Verwerfungen, die der Wohlfahrtsstaat und die „nivellierte Gesellschaft“ (Helmut Schelsky) mit sich brachten, bis zur Auseinandersetzung um die Notwendigkeit von „Freizeitgestaltung“, das Sinken der Lesebereitschaft und den neuen Einfluß des Fernsehens, gegen das Papst Piux XII. einen „heiligen Kreuzzug“ geführt wissen wollte. In der Bundesrepublik waren Literaturkritiker wie Hans Egon Holthusen und vor allen Dingen Friedrich Sieburg Instanzen, die kaum bezweifelte Urteile in Fragen des Geschmacks fällten. Sie verfügten nicht nur über außerordentliche Bildung und die Fähigkeit, einen Kanon zu definieren, dieser Sachverhalt wurde auch allgemein anerkannt.

Wenn Ernst von Salomon 1952 in einem Interview äußerte, daß „alles, was heute politisch etwas zu sagen hat, … aus dem konservativen Lager …“ komme, war das eine gezielte Übertreibung, aber doch nicht ohne Rückhalt in der Wirklichkeit. Gemeint war allerdings nicht die Ebene praktischer Politik, wo zwar von einem gewissen konservativen Habitus gesprochen werden konnte – Adenauer erzielte das beste Ergebnis für die Union mit der Parole „Keine Experimente“ –, aber kaum von einer Umsetzung konservativer Weltanschauung. Das erklärt auch die rasche Marginalisierung der einzigen Partei, die sich ausdrücklich als „konservativ“ bezeichnete, der Deutschen Partei (DP), die in ihrem Stammland Niedersachsen wie im Bund mit der CDU koalierte und in deren Reihen schon früh der Zusammenschluß mit dem größeren Partner erwogen wurde.

Salomon bezog sich mit seiner Aussage vielmehr auf das metapolitische Feld, den intellektuellen Einfluß konservativer Positionen. Aber das gesellschaftliche Klima änderte sich rasch, nachdem die erste Phase des Wiederaufbaus abgeschlossen und die großen innenpolitischen Kämpfe um Weststaat und Westbindung ausgefochten waren. Infolge ihrer dauernden Niederlagen wechselte die SPD den Kurs, gab die prononciert nationale Haltung und das Liebäugeln mit dem Pazifismus auf, vollzog ihr aggiornamento durch das Godesberger Programm und öffnete sich gleichzeitig stärker jener „heimatlosen Linken“, die zwar zahlenmäßig bedeutungslos war, aber erheblichen Einfluß auf die Meinungsmacht gewonnen hatte.

Dazu gehörte nicht nur die Gruppe 47, um die wichtigste Formation zu nennen, sondern auch die Menge „republikanischer“ Vereinigungen, der „Grünwalder Kreis“ und alle möglichen, eher auf persönlichen Kontakten beruhenden Netzwerke, die die Besetzung von Lektoraten und die Programme von Verlagen, die Ausrichtung von Zeitungen und – vor allem – die des Rundfunks maßgeblich beeinflußten. Dabei spielten günstige Ausgangspositionen eine Rolle, die man in der unmittelbaren Nachkriegszeit unter dem Schutz der Besatzungsmächte gewonnen hatte, dann das Geschick, mit dem man die Deckung der SPD nutzte. Die Heftigkeit des Streits über die Auflösung des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), den die Linke als ihre Pfründe betrachtete, und dann der Konflikt um die Gründung des ZDF als „CDU-Fernsehen“ hatten auch damit zu tun, daß immer deutlicher zu erkennen war, welche Bedeutung der Zugriff auf die Medien in einer modernen Gesellschaft besaß, und daß die Linke auf diesem Feld einen Vorsprung hatte.

Sieburg urteilte im Rückblick auf die fünfziger Jahre: „Das Jahrzehnt, von dem hier die Rede ist, zeichnet sich durch nichts auffallender aus als durch die Eroberung der Machtmittel, die im Rundfunk und in der Publizität liegen. Die Literatur von heute ist sich dieser Machtmittel mit krasser Deutlichkeit bewußt; soweit sie sich für diesen irdischen Teil interessiert, versucht sie diese Instrumente in die Hand zu bekommen, wobei sie große, ja überraschende Erfolge erzielt. Der aktivere Teil der heutigen Literatur kämpft nicht um Ideen, noch weniger um Träume, sondern er kämpft um Macht, um höchst reale Macht, die diese Leute genauer einzuschätzen wissen als frühere Geschlechter.“

Was sich anbahnte, war zuerst an einer Veränderung des Tonfalls zu merken, einer Rücksichtslosigkeit und Schärfe der Angriffe gegen die Köpfe der geistigen Rechten und die Unterstützung, die die Linke dabei von der Mitte erhielt. Als symptomatisch darf man die Attacken des jungen Jürgen Habermas auf Gehlen, Schmitt und Heidegger in der FAZ betrachten.

Noch bezeichnender war der polemische Ton gegen Ernst Jünger, obwohl dessen politische Stellungnahmen nach „Rivarol“ (1956) immer undeutlicher geworden waren. Als der von dem Verleger Ernst Klett lange erwogene Plan eines rechtsintellektuellen Organs eine – milde – Umsetzung durch Gründung der Zeitschrift Antaios erfuhr, die Jünger und Eliade herausgaben, war das der Frankfurter Allgemeinen nur noch eine ironische Stellungnahme wert und der sozialdemokratische Vorwärts schrieb von „Jüngers Mythos des XXI. Jahrhunderts“.

Den dritten Teil dieser auf insgesamt acht Folgen angelegten JF-Serie des Historikers Karlheinz Weißmann lesen Sie kommende Woche in der JF-Ausgabe 51/10.

Foto: Transformation: Restauration setzt Substanz voraus

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