© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Hungern als Lektion für die Besiegten
Die deutschen Kriegsgefangenen der USA nach dem 8. Mai 1945
Dag Krienen

Nur zehn Prozent der im Zweiten Weltkrieg in amerikanische Kriegsgefangenschaft geratenen 3,8 Millionen deutschen Soldaten wurden in die USA verschifft, wo sie, wie im letzten Beitrag dieser Reihe (JF 46/10) geschildert, bis zum Mai 1945 im allgemeinen weitestgehend und danach zumindest halbwegs völkerrechtskonform behandelt wurden. Gut 3,4 Millionen Wehrmachtsangehörige hingegen erlebten eine ganz andere Art von US-Gefangenschaft.

Bereits in den nach der Invasion im Spätsommer 1944 neu errichteten Durchgangslagern in Westeuropa – in denen die KGs provisorisch „zwischengelagert“ und sortiert wurden, da nur noch diejenigen, die nicht zur Arbeit herangezogen werden konnten, in die USA transportiert wurden – herrschten miserable Bedingungen. Die Gefangenen erhielten nur ein Minimum an Verpflegung und mußten meist auf dem Boden schlafen. Ihr Los besserte sich aber oft schlagartig, sobald sie in die „US-Labour Service Units“ eingereiht wurden, die allerlei Hilfsdienste in der US-Etappe zu verrichten hatten.

Auch für jene, die später in Deutschland selbst in Gefangenschaft gehalten wurden, galt im allgemeinen: Wer erst einmal für die Amerikaner arbeitete, wurde ausreichend verpflegt und manierlich untergebracht. Doch in den „Genuß“ dieses Privilegs kamen nur die wenigsten der etwa drei Millionen sogenannten „Kapitulationsgefangenen“, die sich in der Schlußphase des Krieges im Vertrauen auf die ihnen von der Propaganda versprochene Behandlung gemäß der Genfer Konvention den Amerikanern ergeben hatten oder von ihnen nach Kriegsende zusammengetrieben worden waren.

Eine auch nur halbwegs korrekte Behandlung erlebte kaum einer. Das völkerrechtswidrige Vorgehen der Amerikaner wird heute gerne durch den 1945 herrschenden Mangel an Nahrungsmittel im Europa erklärt. In den US-Stäben, in denen die einschlägigen Befehle zur Behandlung der Gefangenen ausgearbeitet wurden, spielte dieser indes kaum eine Rolle, wohl aber die Absicht, allen deutschen Soldaten eine drastische Straflektion zu erteilen.

Thorsten Hinz hat in seinem jüngsten Buch über die „Psychologie der Niederlage“ darauf hingewiesen, daß sich 1945 alle Deutschen in einem einzigen riesigen Erziehungslager wiederfanden. Als erster Schritt auf dem Weg zur „demokratischen Umerziehung“ galt es, den Deutschen ihr totales Ausgeliefertsein vor Augen zu führen und jeden kollektiven Selbstbehauptungswillen zu brechen. Die US-Besatzungsdirektive JCS 1067 verfolgte das Ziel, allen Deutschen eine harte, demütigende erste Lektion zu erteilen – durch „Hungern und Frieren“. Der spätere US-Militärgouverneur in Deutschland, Lucius D. Clay, stellte zwar klar, daß die Politik des „Hungerns und Frierens“, über die in amerikanischen Regierungskreisen 1945 Konsens herrschte, nicht zu massenhaftem Verhungern und Erfrieren der Deutschen führen dürfe. Aber ebenso klar war, daß bei der Verteilung der knappen Lebensmittel die deutschen Gefangenen auf der amerikanischen Prioritätenskala an letzter Stelle rangierten.

Für das Los der Kapitulationsgefangenen hatte dies fatale Folgen. Dabei spielte es nur eine untergeordnete Rolle, daß der US-Oberbefehlshaber Eisenhower am 4. Mai 1945 befohlen hatte, alle von nun an gefangengenommenen Deutschen nicht länger als Kriegsgefangene, sondern als „Disarmed Enemy Forces“ (DEF) zu behandeln, die sich nicht mehr auf den Schutz der Genfer Konvention berufen konnten. Dadurch sollte insbesondere die Verantwortung für die Unterbringung, Verpflegung und medizinische Versorgung der Betreffenden von den Amerikanern auf die Deutschen abgewälzt werden. Doch unabhängig von ihrem Status wurden fast alle eingesammelten Gefangenen zunächst in improvisierten „Durchgangslagern“ zusammengepfercht, von denen vor allem die sogenannten „Rheinwiesenlager“ notorisch berüchtigt wurden.

Über die katastrophalen Verhältnisse in diesen Lagern gibt es eingehende Schilderungen (JF 49/02 oder JF 17/05), die hier nur knapp resümiert werden können. Das Zusammentreiben von unzähligen Menschen, die zuvor durch das übliche „Filzen“ aller ihrer Habseligkeiten beraubt worden waren, um sie dann sich selbst zu überlassen, wochenlang eingesperrt in Riesencamps mit teilweise über 100.000 Insassen, unterteilt in separate „Cages“ („Käfige“) für je 5.000 bis 15.000 Gefangene ohne nennenswerte Infrastruktur; das zusammengedrängte Leben ohne Unterkünfte auf freiem Feld, ohne oder nur mit stark improvisierten hygienischen Einrichtungen; die mangelhafte medizinische Versorgung; die in den ersten Tagen praktisch gar nicht und dann nur sporadisch und völlig unzureichend erfolgende Verpflegung; die Mißhandlungen durch die Wachen und die aus den Korruptesten unter den Gefangenen gebildete Lagerpolizei; all das wurde zur Quelle namenlosen Leidens und Sterbens in diesen Lagern.

Nicht jede Einzelheit der Leiden war Ausfluß eines großen Masterplans. Die einschneidende Erfahrung der Entwürdigung und Entsolidarisierung durch Hunger und Verelendung, die praktisch alle deutschen Uniformträger machen mußten, die die Amerikaner 1945 hatten greifen können, der ständige Kampf um wenige Lebensmittel in den „Käfigen“, der die alten Ideale militärischer Disziplin und soldatischer Kameradschaft ad absurdum führte, all dies paßte jedoch als erste „Schocktherapie“ nahtlos in das Konzept der „Umerziehung“.

Nachdem den deutschen Soldaten ihre Lektion verabreicht worden war, hatten die USA allerdings kein Interesse daran, sie endlos gefangenzuhalten. Nachdem sie rund 300.000 von ihnen für ihre „Labour Service Units“ aussortiert hatten, begannen sie mit der Entsorgung der übrigen. Seit dem Juni 1945 wurden neben den Alten und sehr Jungen auch die Angehörigen von wichtigen Berufen der Versorgungswirtschaft entlassen, ab August auch die Masse der übrigen Gefangenen. Da die in die Durchgangslager hineingetriebenen Deutschen aber meist nicht ordentlich registriert worden waren und erst noch sortiert und umverlegt werden mußten, zog sich für viele Deutsche die Gefangenschaft noch länger hin.

Andere wurden zu weiteren Überprüfungen, als Angeklagte bzw. Zeugen in Kriegsverbrecherprozessen oder zur Überstellung als Zwangsarbeiter an die europäischen Alliierten zurückgehalten. Anfang 1946 befanden sich in Europa noch insgesamt etwa eine Million deutsche KGs (ein Teil davon in Frankreich und Italien) in US-Gewahrsam, Anfang 1947 waren es nur noch 40.000.

Die mehr als völkerrechtswidrigen Lebensumstände in den US-Gefangenenlagern auf deutschem Boden, zu denen dem Internationalen Roten Kreuz der Zugang von den Amerikanern zunächst verwehrt wurde, erfuhren ab Juli 1945 allmählich eine Verbesserung. Die Durchgangslager wurden sukzessive aufgelöst oder allmählich in halbwegs ordentliche Kriegsgefangenenlager umgewandelt. In den verbleibenden Camps verbesserten sich die hygienischen, medizinischen und Unterkunftsbedingungen. Die Verpflegung war immer noch knapp bemessen, erfolgte nun aber einigermaßen regelmäßig. Verglichen mit ihren Schicksalsgenossen in den USA waren die Lebensbedingungen der deutschen Gefangenen in Europa Ende 1945 zwar immer noch miserabel, aber weit weniger tödlich als im Frühsommer.

Im Mai und Juni 1945 hingegen hatten in den Rheinwiesen- und anderen US-Lagern in Deutschland die völlig unzureichende Verpflegung, die hygienischen Umstände, das Lagern unter freiem Himmel oder in selbst gegrabenen Erdlöchern, der häufige Regen und der Schlamm zum Tode unzähliger Menschen geführt. „Unzählig“ im wörtlichen Sinne, denn wirklich verläßliche Zahlen der Todesopfer, die die bewußt erteilte Lektion des „Hungerns und Frierens“ unter den Gefangenen gefordert hat, gibt es bis heute nicht. Unter diesen Umständen erregte 1989 das Erscheinen des Buches „Der geplante Tod. Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945–1946“ des kanadischen Journalisten James Bacque einiges Aufsehen, das die Zahl der Toten in den US-Lagern auf bis zu eine Million schätzte. Dazu mehr im folgenden Beitrag dieser Reihe.

Foto: Rheinwiesenlager bei Sinzig mit etwa 116.000 deutschen Kriegsgefangene, Sommer 1945: Als erster Schritt der „demokratischen Umerziehung“ galt es, den Deutschen ihr totales Ausgeliefertsein vor Augen zu führen

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