© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Ein Meister des Jüngsten Tages
Romantik: Der Maler Philipp Otto Runge
Wolfgang Saur

Im Sommer 1810 besuchte der Diplomat Johann Rist in Hamburg Otto Runge. Kurz darauf war der Künstler tot. So blieb Rist nur mehr ein Rückblick: „Eine fromme Weihe, ohne alle Ziererei, war das Element, in dem er wohnte; die Kunst war ihm die Bildersprache, das Unbegreifliche des höheren Geisteslebens zu verdolmetschen. In Gott endeten alle seine Anschauungen und Gedanken, zu ihm strebten seine Bemühungen unablässig, in ihm verklärte sich der dunkle Sinn seiner Bilder, gleichsam erheitert und befreit (…) durch die Annäherung des ewigen Lichts.“

Am 2. Dezember 1810 verstarb der gläubige Protestant Otto Runge, ein radikaler Neuerer der Bildsprache und konservativer Revolutionär in der Kunst. Nach dem Zusammenbruch des barocken Weltbilds mit seinen Stilfiguren, der fürstlichen Repräsentation und kirchlichen Sakralkunst verliert die Malerei um 1800 ihre tradierte Formensprache und Motivik. Auch die religiösen Ordnungen verfallen einer Existenzkrise, die mit dem Verschwinden der Reichskirche besiegelt scheint.

Diese multiple Katastrophe – von den Intellektuellen als Verlust und schöpferisches Chaos zugleich erfahren – treibt die junge, romantische Generation zur Wiedergewinnung von Kunst und Religion, wobei der große Abbruch ganz neue Antworten erzwingt. So wächst sich, gegen den Widerstand der Rationalisten, die radikale Welt der Romantik zu einem geistigen Kosmos aus. Er steht im Zeichen der Synthese, einer Vereinigung des Zersprengten. Das gelingt einigen Künstlern mit religiöser Symbolik.

Zwei große Einzelne sind es und eine Gruppe, die die Kunst neu strukturieren. 1809/10 formieren sich die Nazarener in Wien und Rom. Ihre an die Renaissance anknüpfende Bildform entfaltet eine europaweite Wirkung.

Radikaler stehen als Einsame daneben die Singulärgenies romantischer Malerei: Caspar David Friedrich (1774–1840) und Otto Runge. Beiden wird die „Landschaft“ zur großen Herausforderung. Friedrich lädt seine Kunst religiös mit symbolischen Motiven und hintergründiger Bildarchitektur auf. So erhebt sein „Tetschener Altar“ (1808) ein Landschaftsbild („Kreuz im Gebirge“) zur neuen Andachtsform und löst einen Skandal aus. Runge hingegen abstrahiert von der sichtbaren Natur. Er übersetzt ihre Kräfte und Prinzipien in allegorische Bildformeln und komponiert sie zu seinem zyklischen Gesamtkunstwerk der „Zeiten“. Sie werden zum geheimnisvollen Ausdruck seines theosophischen Weltbildes.

Philipp Otto Runge wurde am 23. Juli 1777 im pommerschen Wolgast geboren. Zur künstlerischen Ausbildung geht er nach Kopenhagen, wird gewandt im klassischen Stilausdruck, doch kritisch gegen den akademischen Betrieb. Er beteiligt sich an Goethes Weimarer Preisausschreiben; der hatte Bildaufgaben nach Homer gestellt. Durchgefallen und öffentlich abgekanzelt (1801), spitzt sich sein Bruch mit der normativen Regelästhetik zu. Runge drängt nun auf eine kreative Selbstfindung. Wie er diese gewinnt, dokumentiert eindrucksvoll das frühe Selbstporträt (1802). Es bezeugt sein neues Selbstbewußtsein, ja revolutionäre Kraft.

In der alten Kunststadt Dresden schließt der junge Maler seine Ausbildung ab. Hier gewinnt er neue Freunde, so vor allem Ludwig Tieck. Jahre zuvor hatte er dessen „Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797/99) und den Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ (1798) verschlungen. Die Wendung zum vaterländisch Eigenen, zur Einheit von Glauben und Schönheit, zur Kunstandacht verkörpert sich dort in Albrecht Dürer, der Wahrheit, Ernst und Frömmigkeit in der Kunst anmahnt.

Jetzt propagiert Tieck Jakob Böhme unter den Romantikern. Runge eignet sich Böhmes theosophische Spekulation an. Dessen Signaturenlehre erkennt in allen Erscheinungen eine „Bezeichnung oder Figur der inneren geistlichen Welt“ und in der „Gottheit das göttliche Licht, das Zentrum alles Lebens“. Natur, Mensch und Gott stehen in lebendiger Wechselbeziehung, im Kosmos waltet das Gesetz der Korrespondenz. Analog zur Offenbarung Gottes in der Natur bestimmt Runge die menschliche Schöpferkraft. „Entsteht nicht ein Kunstwerk nur in dem Moment“, schreibt er, „wann ich deutlich einen Zusammenhang mit dem Universum vernehme?“

1804 heiratet er die Unternehmertochter Pauline Bassenge. Sie ziehen nach Hamburg. Hier entwickelt er seine Kunstideen; Farbenlehre und neue Bildsymbolik ziehen immer weitere Kreise. Daneben entstehen zahlreiche Bildnisse von Angehörigen und Freunden, familiäre Gruppenbilder und präzise Kinderporträts. Vom Künstler selbst als Gelegenheitsarbeiten aufgefaßt, haben sie im 20. Jahrhundert seinen Nachruhm begründet.

Bei Runges Tod 1810 sind außer Buchillustrationen und seiner Farbkugel nur die vier Radierungen der „Tageszeiten“ (1805) bekannt. Die Zeichnungen und Ölfassungen des „Morgens“ (1808/09) sowie seine zahlreichen Porträts bleiben privat. Erst zwischen 1895 und 1904 werden sie entdeckt. Die Berliner Jahrhundertausstellung 1906 stellt ihre säkulare Bedeutung heraus.

Runges Werk umfaßt Zeichnungen, Druckgrafik, Ölbilder und zahlreiche Scherenschnitte. In diesen erreichte der Künstler besondere Virtuosität. Runge schnitt die kompliziertesten Figuren von Blumen, Gräsern, Gewächs freihändig aus in Weiß und applizierte sie schwarzem Grund. Ein ganzes Meer solch filigraner Lichtzeichen hat er hinterlassen.

In den großen Bildmedien hat Runge sich einen ureigenen Realismus des Porträts und Symbolismus im Allegorischen erarbeitet. Im Porträtfach ist er gleich entfernt von der gefühlvollen Physiognomik seines Mentors Anton Graff wie vom biedermeierlichen Genrebild der Restauration. Schon seit der „Rückkehr der Söhne“ (1800) über „Die Eltern des Künstlers“ (1806) und „Pauline mit Sigismund“ (1807) bis zum „Selbstbildnis im braunen Rock“ (1810) monumentalisiert er das Private zur heroischen Gestalt. Porträts kennen wir seit der Renaissance. Runge aber hat dieser Bildgattung schöpferisch neues Gewicht verliehen.

Als sein Hauptwerk (das fragmentarisch blieb) betrachtete Runge sein Projekt der „Tageszeiten“. Er entwarf vier Tafeln, die als Morgen-Tag-Abend-Nacht den Zyklus eines vollen Umlaufs bieten: „blühend, erzeugend, gebärend, vernichtend“. Motivisch beschränkte er sich auf Blumen und Genien. Formal paßte er sich der Groteske, ornamentalem Wandschmuck, an: symmetrisch ausgeführte Mittelfelder mit dekorativem Rahmenwerk.

Konzeptionell bietet er seine Vision von der Periodizität des Lebens, von zeitlicher Erneuerung und ewigem Halt in Gott. Runges Allegorie zeigt eine symbolische Schichtung, fügt sie doch Tages- und Jahreszeiten, Lebenszeiten, Weltzeit, ja Zeit und Ewigkeit in eins.

Von diesen vier Arabesken hat Runge nur den „Morgen“ in Öl ausgeführt. Unter der in einen nächtlichen Himmel aufsteigenden Lilie erscheint die Figur der Aurora. Die Lilie wird angestrahlt durch das aufsteigende, weltschaffende göttliche Licht. Oben erklingt englische Sphärenmusik, unten erblickt das Kind „das Licht der Welt.“ Auf der Rahmenleiste nehmen wir die aufgehende Sonne und beidseitig die aufstrebenden Seelen wahr.

All dies vollendet Runges Farbenlehre, die durch Beobachtung entstand. Er wendet Böhmes theosophische Schau auf Farbe und Licht an: dessen Kampf von Gut und Böse wird in die Hell-Dunkel-Polarität übersetzt. Im Licht wirkt das Mysterium der Trinität. Es erscheint in den Grundfarben: Blau (Gottvater), Rot (Christus), Gelb (Geist). Universaler Akteur, Bedingung alles Lebendigen ist also das Licht, Gottes Schöpferkraft.

Runge war die Auferstehung fundamentale Heilstatsache. Deshalb schreckte ihn auch die endzeitliche Gegenwart nicht, der die Vision des neuen Lebens schon vorleuchtete.

Runge-Ausstellung: Zum 200. Todestag widmet die Hamburger Kunsthalle Philipp Otto Runge von diesem Freitag an (3. Dezember) eine umfassende Retrospektive unter dem Titel „Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik“. Bis zum 13. März 2011 werden am Glockengießerwall 35 Gemälde, über 200 Zeichnungen sowie 50 Scherenschnitte und Schattenrisse Runges gezeigt.  www.hamburger-kunsthalle.de

Foto: Philipp Otto Runge, Der Morgen (1808): Bedingung alles Lebendigen ist das Licht, Gottes Schöpferkraft

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen