© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/10 03. Dezember 2010

Reise in die Gegenwart
Zentralrat der Juden in Deutschland: Der neue Präsident Dieter Graumann steht vor einem Lernprozeß
Doris Neujahr

Der neugewählte Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, weckt Hoffnungen. Sein Amtsantritt sei „eine Zeitenwende für den Zentralrat“, denn mit ihm „rückt erstmals eine Persönlichkeit an die Spitze, die nicht zur Überlebenden-, sondern zur Nachgeborenengeneration zählt“. Damit sei „eine neue, eine erweiterte Perspektive“ zu erwarten: „Eine Perspektive, die die Vergangenheit nicht ausblendet oder relativiert, sich aber genauso dezidiert sehr heutig, sehr konkret den vielen Facetten von jüdischem Leben in Deutschland widmet“, heißt es im Glückwunschschreiben von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) an den 60jährigen. Unüberhörbar schwingt die Hoffnung mit, der Zentralrat möge sich endlich auf die Reise in die Gegenwart begeben.

Graumann scheint klar zu sein, daß der Zentralrat fast ausschließlich als vergangenheitsfixierte Nervensäge wahrgenommen wird und seine vordergründig herausragende Position in Wahrheit brüchig ist. Ist er der richtige Mann, um daran etwas zu ändern? Wird er seinem sendungsbewußten Generalsekretär Stephan Kramer die fälligen Zügel anlegen?

Hoffnung auf einen Neuanfang wecken Äußerungen wie: „Wir müssen heraus aus der Holocaust-Nische und mitten hinein ins Leben.“ In einer Rede in der Frankfurter Paulskirche forderte er gerade, das Judentum müsse sich „munter und bunter“ darstellen. Soll der Zentralrat sich also in einen normalen Sozial- und Interessenverein verwandeln? Das wohl kaum. Sein Einfluß, Prestige und die mediale Aufmerksamkeit, die er stets findet, verdanken sich fast ausschließlich dem Rekurs auf die NS-Zeit, die zugleich zur sinnstiftenden Mitte der Bundesrepublik geworden ist. Und das soll sie nach Graumanns Willen auch bleiben. Dafür ist er immer wieder mit apodiktischen Forderungen und Thesen hervorgetreten. Ein Zentrum gegen Vertreibungen lehnt er ab, weil er dadurch die Exklusivität des Holocaust-Mahnmals gefährdet sieht. Nachdrücklich warnt er vor der Umdeutung deutscher Täter zu Opfern.

Wenn Dieter Graumann sein Motto: „Mehr Kreativität, mehr Phantasie – statt Empörungsrituale!“ ernst meint, dann bedeutet seine Präsidentschaft vor allem für ihn selbst einen enormen Lernprozeß.

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